Ein Dorf verschwindet: Der lange Kampf um Altenwerder
Da, wo früher das Fischerdorf Altenwerder war, steht heute ein Containerterminal. Der Bauer Manfred Brandt hat dagegen geklagt.
HAMBURG taz | Da liegen sie, die Symbole des globalisierten Warenverkehrs. Hohe Containerstapel, bis zu 30.000 Stahlkisten neben- und übereinander, rund drei Millionen übers Jahr, 110 Meter hohe Containerbrücken gleiten mit tonnenschweren Boxen in ihren stählernen Klauen vom Schiff zum Land, vom Land zum Schiff. „Hier hatte ich früher Vieh zu stehen“, sagt Manfred Brandt.
Vom Moorburger Berg, einem 22 Meter hohen Hügel aus ausgebaggerten Elbsedimenten am Hamburger Hafen, schaut er auf das Containerterminal Altenwerder hinab. Seit zwölf Jahren ist es in Betrieb, nächste Woche wird sich das Verwaltungsgericht Hamburg damit befassen. Ab Dienstag verhandelt es über die Frage, ob der Abriss des Fischerdorfes Altenwerder, das zuvor dort stand, überhaupt rechtmäßig war.
Vor 19 Jahren hatte Manfred Brandt, der Landwirt aus dem angrenzenden Dörfchen Moorburg, seine Klage eingereicht. Er selbst findet es „absurd“, dass erst nach fast zwei Jahrzehnten die Verhandlung in erster Instanz beginnt. Und deshalb rechnet Brandt auch nicht ernsthaft damit, dass im Erfolgsfall das Terminal wieder abgerissen werden muss. Ihm geht es ums rechtsstaatliche Prinzip und um die Frage, „ob Dörfer auf Vorrat plattgemacht werden dürfen“.
Denn nach Altenwerder soll Brandts Dorf dran sein: Moorburg ist vor gut 30 Jahren vom Hamburger Senat ebenfalls zum Hafenerweiterungsgebiet erklärt worden und ist noch immer „als Option unverzichtbar“, wie die Wirtschaftsbehörde auf Nachfrage bestätigt. Deshalb gilt dort eine Veränderungssperre, verkaufen darf man nur an die Stadt, in neue Heizungen zu investieren ist riskant, weil niemand weiß, wie lange das Dorf noch existiert. „Moorburg blutet langsam aus“, sagt Manfred Brandt, das sei ein ganz langsamer und schleichender Tod.
Eine Keimzelle der Öko-Bewegung
In den 1970er- und 1980er-Jahren war der Kampf um das Bauern- und Fischerdorf Altenwerder an der Süderelbe eine der Keimzellen der Ökologiebewegung, nicht nur in Hamburg. Viele Linke und Alternative fanden hier ihre damaligen Lieblingsklischees: Böse Bosse und korrupte Politiker, die aus Profitgier Natur und Traditionen zerstören, einerseits; reetgedeckte Fachwerkhäuschen am Fluss, Fischerboote, Schafherden und Obstbäume, die vom autarken biodynamischem Leben träumen ließen, andererseits. Das Altenwerder Fischerfest im Sommer wurde zum Karneval des Widerstandes, zum Treffpunkt und Infoplatz der norddeutschen Umweltbewegung. Im August 1981 etwa demonstrierten rund 60.000 Menschen an und auf der Elbe für den Erhalt des Dorfes.
Auch die Hamburger Grünen, die sich damals als Grün-Alternative Liste (GAL) gründeten und 1982 erstmals in die Bürgerschaft einzogen, sind programmatisch und in ihrer personellen Erstbesetzung ohne Altenwerder nicht zu denken. Der Altenwerder Fischer Heinz Oestmann (siehe Porträt Seite 43) wurde ebenso zur Symbolfigur des Widerstands wie die Moorburger Lehrerin Thea Bock, die viele Jahre für die Grünen in der Bürgerschaft saß und später für die SPD im Bundestag; der sprachgewaltige Thomas Ebermann, ebenfalls zeitweise Abgeordneter in Bürgerschaft und Bundestag, gehörte dazu, auch Angelika Birk, später grüne Wohnungsbauministerin in Schleswig-Holstein, und schließlich Ulla Jelpke, die nach ihrer Hamburger Politzeit inzwischen für die NRW-Linke im Bundestag sitzt. Sie alle kamen und gingen. Manfred Brandt, der gebürtige Moorburger, ist geblieben.
Auch vor Gericht ist er der letzte seiner Art. 40 KlägerInnen waren es, die 1995 vor Gericht zogen, Privatpersonen, Betroffene, Umweltverbände. Einer nach dem anderen stieg aus. Manche einigten sich mit der Stadt auf eine Entschädigung, einige sind zwischenzeitlich verstorben, der vorletzte Kläger gab vor einem Jahr auf. „Hamburg macht Druck, bis die Leute psychisch am Ende sind“, sagt Brandt, „der Rest wird mit Geld erledigt.“
Brandt will sich nicht abspeisen lassen
Er ist niemandem böse, der aufgegeben oder Ausgleichszahlungen akzeptiert hat, aber sein Weg ist das nicht. Es habe nie ein faires Verfahren gegeben, sagt Brandt, und so lasse er sich nicht abspeisen. Dass Leute wie er als Querköpfe betrachtet würden, könne schon sein, sagt er. Aber er wirkt nicht so, als ob ihn das beeindrucken könnte.
Manfred Brandt ist ein Unbeirrbarer. Seit vielen Jahren ist er einer der führenden Köpfe des Hamburger Vereins „Mehr Demokratie“, der im Stadtstaat die Volksgesetzgebung, verbindliche Volksentscheide und ein neues Wahlrecht durchsetzte. Mit Bürgerschaftsabgeordneten und Bürgermeistern hat Brandt nächtelang verhandelt, und in großen Teilen haben er und „Mehr Demokratie“ sich durchgesetzt. Nicht zuletzt deshalb, weil Brandt hält, was er zugesagt hat, weil er zu denen gehört, die nachdenken, bevor sie reden, und weil er so leise spricht, dass alle an seinen Lippen hängen, um ihn verstehen zu können. Für die Frage, ob das ein bewusster Trick sei, hat Manfred Brandt nur ein leises Lächeln übrig.
Der Resthof des 68-jährigen Agrarwissenschaftlers liegt kaum 200 Meter Luftlinie vom Containerterminal entfernt, dazwischen verhindert der Moorburger Berg die Sicht, nicht aber die Geräusche. Brandt klagt wegen des Lärms und der Wertminderung der Grundstücke, aber auch aus Prinzip. Bei den Planungen seien Alternativen nie ernsthaft geprüft worden, deshalb sei das Hafenentwicklungsgesetz als Rechtsgrundlage hinfällig. Statt Altenwerder zu planieren, hätte der Terminal Waltershof an der Norderelbe ausgebaut werden können, argumentiert Brandt.
Und das könnte in der Tat ein rechtlich zu würdigender Aspekt sein. Nach dem neuen Hafenentwicklungsplan vom Dezember 2012 soll der Hamburger Hafen bis 2025 in mehreren Schritten „flächenschonend nach innen erweitert werden“, wie der parteilose Wirtschaftssenator Frank Horch bei der Präsentation sagte. So würden die Terminals Tollerort und Altenwerder auf je vier Millionen Standardcontainer ausgebaut werden, Burchardkai und eben Waltershof auf jeweils sechs Millionen.
"Auf Vorrat vernichtet"
Da ist die Frage, warum die anderen drei Terminals nicht schon früher erweitert worden sind, ohne Altenwerder anzutasten – nach dem Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel keine ganz uninteressante Frage. Für Brandt ist das klar: „Altenwerder ist auf Vorrat vernichtet worden, das ist nicht rechtmäßig.“
Das Todesurteil war am 23. September 1996 verhängt worden. Das Dorf Altenwerder dürfe, verkündete damals das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (OVG), ab sofort von Baggern zerstört und in ein Containerterminal verwandelt werden, der Baustopp aus erster Instanz wurde aufgehoben. Die Abwägung zwischen den konkurrierenden Belangen sei „in allen Punkten rechtsfehlerfrei“, befand das OVG. Altenwerder sei als Hafenerweiterungsgebiet ausgewiesen, eine andere Nutzung als zu Hafenzwecken sei früher oder später „unrealistisch“.
Sogar die im Bundesnaturschutzgesetz geregelte Pflicht zu ökologischen Ausgleichsmaßnahmen fand das OVG nicht weiter relevant. Als das Gesetz verabschiedet wurde, habe die Planung für Altenwerder längst vorgelegen, weshalb es keinen Anspruch auf naturnahen Ersatz gebe. Es reiche, dass die in Aussicht gestellte Ersatzmaßnahme, die Öffnung der Alten Süderelbe, „möglich“ sei. Eine Garantie dafür sei nicht nötig. Außerdem könne die Vernichtung des Biotops auch durch Geldzahlungen beglichen werden.
So kam es dann auch: die Aufwertung des Altarms erfolgte nicht, aber Geld floss. 2008 zog der Umweltverband BUND seine Klage gegen Altenwerder zurück, nachdem er einen Vergleich mit der Stadt geschlossen hatte. Die zahlte 5,9 Millionen Euro in eine Stiftung ein, die Ausgleichsflächen aufkauft und ökologisch aufwertet.
Übrig sind nur die Kirche und der Friedhof
Unmittelbar nach dem Richterspruch begann die Planierung des 700 Jahre alten Fischerdorfes, 1998 wurde das letzte Haus abgerissen, 1999 startete der Bau des Terminals. Übrig sind einzig die Kirche St. Getrud und die Gräber des Friedhofs geblieben. Umgeben von Erlen, Weiden und verwilderten Obstbäumen liegen sie wie Inseln in der Zeit zwischen dem Containerterminal und der Autobahn A 7. Im Norden steht die Köhlbrandbrücke, im Südosten das Kohlekraftwerk Moorburg, in unmittelbarer Nachbarschaft drehen sich seit 2008 die beiden größten und stärksten Windkraftanlagen Hamburgs, 198 Meter hoch, sechs Megawatt Leistung, genug für 15.000 Haushalte.
St. Gertrud ist die vierte Kirche an dieser Stelle, nach 1831 erbaut, inzwischen rechtlich der Hafenverwaltung Hamburg Port Authority (HPA) unterstellt, mitbetreut von der Thomas-Gemeinde in Harburg-Hausbruch. Zweimal im Monat finden hier noch Gottesdienste mit Kirchencafé statt, die Baumblütenkonzerte an sommerlichen Sonntagnachmittagen können gegen eine Spende besucht werden, Taufen und Trauungen sind weiterhin möglich. Trauerfeiern hingegen nicht mehr, der jüngste Grabstein datiert von September 1998, als das letzte Haus im Dorf vom Erdboden verschwand.
Ob das Gerichtsverfahren, das am Dienstag beginnt, nach 19 Jahren Wartezeit überhaupt noch sinnvoll sei, kann Gerichtssprecher Andreas Lambiris „nicht in einem Satz beantworten“. Sicher sei, dass die Kläger untereinander über ihr Vorgehen und ihre Prozesstaktik nicht immer einig gewesen seien, eine stattliche Anzahl an Befangenheitsanträgen habe die Sache immer wieder verzögert, Personalwechsel in der Kammer – eins kam zum anderen. Aber auch die Kläger hätten „nicht gerade gedrängelt“, sagt Lambiris. Nun habe ein neuer Vorsitzender es für zweckmäßig erachtet, über die Klage von Manfred Brandt die Verhandlung zu eröffnen.
Der freut sich, dass er das noch erleben darf.
Unseren ganzen Schwerpunkt über das verschwundene Dorf lesen Sie in der taz.am Wochenende oder hier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein