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UN-Direktor über Flüchtlinge„Für Europa ist das händelbar“

Immer mehr Menschen werden über das Mittelmeer in die EU kommen, sagt Volker Türk vom Flüchtlingshilfswerk der UN. Von Asylverfahren in Nordafrika hält er nichts.

Dieses Foto der Pressestelle der italienischen Marine zeigt die Erstuntersuchung von Flüchtlingen nach ihrer Rettung vor der Küste Siziliens. Bild: dpa
Christian Jakob
Interview von Christian Jakob

taz: Herr Türk, derzeit kommen erheblich mehr Flüchtlinge nach Europa als sonst. Länder wie Griechenland und Italien warnen, ihre Belastungsgrenze sei bald erreicht. Ist das wahr?

Volker Türk: Vom 1. Januar bis zum 16. Juni haben wir im Mittelmeerraum 57.000 Ankünfte von Flüchtlingen und Migranten registriert, darunter viele Syrer. Zum Vergleich: Im ganzen Jahr 2013 waren es 42.000. Wir erwarten, dass diese Zahlen weiter ansteigen, aber wir glauben, dass dies für Europa insgesamt händelbar ist. Das wird manchmal überdramatisiert. Europas Belastung ist nichts im Vergleich mit den Nachbarregionen.

Man darf da die Perspektive nicht verlieren. Seit Beginn des Konfliktes vor drei Jahren sind in den Industrieländern knapp 96.000 Asylgesuche von Syrern gestellt worden. Libanon hingegen hat 4,5 Millionen Einwohner und sie haben mehr als eine Million Flüchtlinge. Man muss sagen: Hut ab vor der Bevölkerung und den politisch Verantwortlichen dort. Das gilt besonders auch für die Türkei und für Jordanien.

Wie wird sich die Lage in den Nachbarstaaten Syriens entwickeln?

Wir haben derzeit 2,8 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge, die meisten in den Nachbarländern. Wir gehen davon aus, dass es zu weiteren Fluchtbewegungen kommt, weil sich keine politische Lösung abzeichnet.

Welche Rolle spielt die aktuelle Situation im Irak?

Es gab Syrer, die dorthin geflohen sind. Weil das nun schwierig ist, wird die Lage komplizierter.

Tut Europa genug?

unhcr
Im Interview: Volker Türk

48, ist Direktor für Internationalen Schutz beim Hohen Kommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) in Genf.

Aufgrund der geografischen Nähe ist es sehr wichtig, dass die EU-Länder Solidarität zeigen. Diese Solidarität kann in verschiedener Weise ausgedrückt werden.

Wie zum Beispiel?

Wir haben mit humanitären Organisationen einen regionalen Plan für die humanitäre Hilfe der Flüchtlinge vor Ort erarbeitet. Der ist aber leider nicht ausreichend finanziert – von den Kosten von 4,3 Milliarden US-Dollar haben wir insgesamt bislang gerade mal 27 Prozent erhalten. Wichtig sind auch Infrastrukturmaßnahmen. In manchen libanesischen oder jordanischen Gemeinden hat sich die Bevölkerungszahl von einem Tag auf den anderen verdoppelt oder verdreifacht. Dort herrscht ohnehin Wasserknappheit, da muss massiv investiert werden.

Wir arbeiten dazu mit der Weltbank und dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP zusammen, benötigen aber vermehrt und dauerhaft internationale Hilfe. Die dritte Maßnahme ist die humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen. Deutschland spielt da eine führende Rolle. 20.000 Plätze wurden zugesagt, das ist die höchste Zahl in Europa – obwohl gerade ohnehin viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Manche sagen: Im Vergleich zu den Nachbarländern Syriens ist das sehr wenig. Aber wir glauben, dass der deutsche Beitrag wichtig ist, auch als Vorbild.

Das zeigt nicht überall Wirkung: 14 der 28 EU-Staaten stellen überhaupt keine Plätze für SyrerInnen bereit.

Wir hoffen, dass die Weiterwanderung syrischer Flüchtlinge im europäischen Rahmen erleichtert wird: Mit Studenten- oder Arbeitsvisa etwa oder erleichterten Bedingungen für die Familienzusammenführungen.

Die EU weigert sich, einen legalen Zugang für Flüchtlinge einzurichten. Ist dies angesichts der ständigen tödlichen Unfälle an den Außengrenzen weiter haltbar?

Legale Möglichkeiten der Einreise in die EU wären für uns ein wichtiger Schritt. Nach unserer Einschätzung haben in diesem Jahr etwa 200 Flüchtlinge im Mittelmeer das Leben verloren. Das ist eine große Tragik. Allerdings führen die südeuropäischen Staaten verstärkt Rettungsmaßnahmen durch. Ein Beispiel ist die italienische Mission „Mare Nostrum“. Ich bin zuversichtlich, dass diese Maßnahmen robust fortgesetzt werden.

Italien und Griechenland werden aber zunehmend unwillig. Sie fordern den Aufbau von Asyllagern in Nordafrika, um dort die Anträge von Flüchtlingen zu bearbeiten. Ähnliches hatte der deutsche Innenminister Otto Schily schon 2004 angeregt. Ein hoher UNHCR-Vertreter wurde kürzlich mit den Worten zitiert, er sei „nicht kategorisch gegen solche Überlegungen“, wenn dabei die Flüchtlingsrechte gewahrt würden. Menschenrechtsorganisationen halten aber genau dies für ausgeschlossen. Und Sie?

Dazu wollen wir klarstellen, dass wir nichts von sogenannten Holding Centers halten. Das ist für uns keine Alternative, um die Herausforderungen dieser Fluchtbewegungen zu bewältigen. Es ist unrealistisch, so etwas in die Diskussion einzuführen. Trotzdem muss man natürlich die Transitregionen, etwa Nordafrika, stärker in den Blick nehmen.

Inwiefern?

Zu einem umfassenden Ansatz von Flüchtlingsschutz gehört, vor Ort Möglichkeiten für die legale Weiterwanderung anzubieten, etwa durch Resettlement. Aber auch die Asylpolitik in Nordafrika selbst spielt eine Rolle. Wir hatten uns sehr stark erhofft, dass es nach dem Arabischen Frühling, in dem Menschenrechte ein Ziel waren, der Aufbau von Asylstrukturen Teil der postrevolutionären Aufbruchstimmung sein würde.

Das ist enttäuschenderweise nicht ganz gelungen. Nur Marokko verabschiedete kürzlich eine positive Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die Situation in Libyen aber ist besonders chaotisch. Solange sich die Lage dort nicht stabilisiert, kann das Land keinen Beitrag zum Flüchtlingsschutz leisten. Tunesien hat den Entwurf für ein Asylgesetz bislang nicht verabschiedet. In Ägypten gab es Verschlechterungen, das Land hat Flüchtlinge inhaftiert.

Das ist nördlich des Mittelmeers nicht anders. Das neue EU-Recht ermöglicht die weitgehende Inhaftnahme von Asylsuchenden. Staaten wir Malta oder Griechenland nutzen das, in Deutschland wird gerade ein entsprechendes Gesetz vorbereitet.

Wir beobachten diesen Trend. Unser Ziel ist, die Inhaftierung zur Ausnahme zu machen. Wir haben dafür letzte Woche unsere globale Strategie vorgestellt. In den nächsten fünf Jahren wollen wir vor allem verhindern, dass es weiter zur Inhaftierung von Kindern kommt. Insgesamt sollen Alternativen zur Haft ausgebaut werden. Und schließlich müssen die Standards der Hafteinrichtungen verbessert werden. Schließlich gibt es auch legitime Gründe für Inhaftierung, die sind aber klar die Ausnahme als die Regel.

Die Staaten, die besonders exzessiv inhaftieren, argumentieren mit der Belastung durch das Dublin-III-System, das die Zuständigkeit für Flüchtlinge einzig nach dem Ort der Einreise in die EU regelt.

Es ist ein Problem, wie in der EU teils mit den existierenden Instrumenten des Asylrechts umgegangen wird – etwa bei der Bewältigung der hohen Zahlen, die man in Italien sieht. Dort braucht es Unterstützung für Aufnahmemaßnahmen und eine Asylpolitik, die integriert, die Schutz eröffnet und nicht nur Weiterwanderung herbeiführt. Gleichzeitig muss es handfeste Solidaritätsmaßnahmen geben und die Länder Südeuropas müssen das Vertrauen haben, dass die kommen.

Sie sprechen sich also für eine Neuregelung des Dublin-Systems aus?

Es ist wichtig, alle existierenden Möglichkeiten des Dublin-Systems auszunutzen und sich vermehrt um einen funktionierenden internen Verteilungsschlüssel zu bemühen.

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6 Kommentare

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  • @ BARBARA NIEM

     

    Daß Sie als vermutlich sog. OttonormalverbraucherIn hohe Steuern abdrücken ist den (von Ihnen?) gewählten Regierungen zu verdanken, ebenso die Verteilung der Gelder.

     

    Bevor Sie lautstark rumjammern, daß in einem Bürgerkrieg, der mit Waffen von dem drittgrößten Waffenlieferanten weltweit, Deutschland, geführt wird, Menschen in bitterster Not mit "Ihren" Steuergeldern gerettet werden, für die vielleicht eine bessere Verwendung da wäre, und Sie womöglich noch Hirnlose dazu ermutigen, Flüchtlingszelte anzuzünden, Fensterscheiben von Wohnheimen einzuschmeißen oder gar Schlimmeres, sollten Sie sich vielleicht erstmal ein Bild von der finanziellen Gesamtlage der Bundesrepublik machen:

     

    Geld ist mehr als genug da, in Deutschland.

    Die Frage ist nur:

    Wie wird es von wem für was verteilt?

    • @Schwarznasenschaf:

      DANKE!

  • Daß z.B. die Städte und Gemeinden finanziell am Exitensminimum, nicht wenige drunter, knabbern müssen, ist der Erfolg der letzten Bundesregierungen seit Kohl, Schröder und Merkel - die jeweils mehrheitlich gewählt und aufgrund ihrer offensichtlich erwünschten Politik immer wieder gewählt worden sind.

    Diese Bundesregierungen haben nach und nach den Ländern und Gemeinden immer mehr Geld aus deren Steuersäckel in den Bundeshaushalt abgesogen, um selbst glänzender darzustehen.

     

    Unter der ersten Regierung Merkel gab es deswegen sogar harte Kritik aus der Union selbst, und zwar von "unten", von den Gemeinden und zum Teil Ländern.

    Diese wurde aber kaum gehört, weil alle viel zu sehr damit beschäftigt waren, die geniale Finanzpolitik der Regierung Merkel zu loben.

     

    Trotzdem hat z.B. Hamburg wahnsinnig viel Geld über, sich eine Elbphilharmonie zu leisten, die in meinen Augen viel zu übertrieben für eine Stadt mit angeblichen Geldsorgen sein sollte und außerdem ein finanzielles schwarzes Loch darstellt, in welchem deutlich mehr Steuergelder verschwinden, als das Ding eigentlich kosten soll.

    Dafür verotten in Hamburg nicht nur Straßen und Radwege, sondern auch Schulen und andere öffentliche Einrichtungen.

    Aber offensichtlich wünscht sich die Mehrheit der Hamburger diese Verteilung ihrer Steuergelder, sonst würden sie entweder dagegen vorgehen oder zumindest anders wählen.

  • In Berlin ist's ähnlich:

    Dort wird jeden Tag das Schlagloch des Tages gekürt, weil die Straßen vergammeln,

    aber man baut sich einen Flughafen, der längst hätte in Betrieb sein sollen, von dem niemand weiß, ob er je fertig werden wird und von dem Studien mitlerweile belegen, daß er für immer ein dauerhaftes Steuergeldgrab sein wird.

     

    Auch Stuttgart 21 wird - welch völlig unerwartete Überraschung - deutlich sehr viel teurer, als ursprünglich veranschlagt.

     

    Autobahnen könnte man so bauen, daß sie nur alle zwanzig Jahre repariert werden bräuchten. Sehr angenehm zu befahren in Frankreich und Italien z.B.; aber in Deutschland müssen die Straßenbauunternehmen genug Geld verdienen, ergo hält eine Autobahn in Deutschland dann nur drei bis fünf Jahre, bis wieder repariert werden muß.

    (Das ist die vielzitierte Wirtschaftskompetenz der Partei mit dieser.)

     

    Von Bankenrettungen und Rettungsschirmen ganz zu schweigen.

     

    Angesichts dessen finde ich persönlich 50 Millionen einen lächerlich kleinen Betrag, die man einfach mal eben fix zusammenkratzen könnte, wenn man sich keinen Schwachfug, kleinere Steuerlecks und eine nachhaltigere Finanzpolitik erlauben würde,

    Und sie zudem anständiger und besser angelegt, wenn damit Menschen gerettet werden, anstatt die schweizer Bankkonten von korrupten Geldsäcken zu füllen.

     

    Aber das ist natürlich nur das Denken eines linken Spinners in einer Welt, wo jeder selbst das verblieben Bischen, was hart erkämpft wurde, bis auf's Messer gegen parasitäre Lebensformen verteidigt werden muss.

  • "Libanon hingegen hat 4,5 Millionen Einwohner und sie haben mehr als eine Million Flüchtlinge. Man muss sagen: Hut ab [...]"

     

    Das ist ÜBERHAUPT NICHT eindrucksvoll. Was soll diese Irreführung? Das wird alles von UNSEREN Steuergeldern bezahlt, dafür muss ICH arbeiten.

     

    "Größter Geldgeber für die Syrien-Hilfe ist die EU: Mehr als 1,3 Milliarden Euro haben die Mitgliedstaaten bisher zur Verfügung gestellt, allein 153 Millionen gab die EU-Kommission für den Libanon frei."

     

    http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-09/syrien-fluechtlinge-libanon/seite-2

     

    In Hamburg müssen gerade 50 Millionen zusätzlich aus dem Haushalt abgezweigt werden, um für weitere Flüchtlingen WOHNUNGEN (seit wann reichen bei den geringen Anerkennungsquoten nicht Sammelunterkünfte?) zu bauen, während dort Fußwege und Radwege verrotten.

     

    Hört also auf mit diesem "Deutschland muss mehr tun"-Gefasel. Wir tun bereits zu viel!

     

    An vorderster Stelle sind immer die Nachbarländer gefragt, wenn die Bevölkerungen ihre islamistischen Bürgerkriegsspiele machen. Und wenn die auch versagen, sind nordafrikanische Zentren sehr wohl eine Alternative!

    • @Barbara Niem:

      Heldin der Arbeit. Arme Barbara Niem, SIE muss arbeiten-für Flüchtlinge. Unerhört.