: „Ich kann nicht lügen, um zu leben“
VON BIANCA JAGGER
Während wir ständig daran erinnert werden, wie viele Tage uns noch bis Weihnachten zum Einkaufen verbleiben, läuft für Stanley „Tookie“ Williams ein viel schwerwiegenderer Countdown: Seine Lebensuhr läuft ab, während wir darauf warten, dass Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger über sein Schicksal entscheidet. Williams soll am 13. Dezember mit einer Giftspritze hingerichtet werden.
Am 21. November bin ich zum San-Quentin-Gefängnis gereist, um Williams zu treffen. Als ich ankam, konnte ich mich nur wundern, warum sie diesen idyllischen Ort gewählt haben, um eines der berüchtigtsten Hochsicherheitsgefängnisse des Landes zu errichten. San Quentin ist auf dem freien Feld gebaut, mit Aussicht auf die wunderschöne San Francisco Bay. Dort sind alle im Staat Kalifornien zum Tode verurteilten Männer untergebracht. Der ursprüngliche Todestrakt war für 68 Gefangene ausgerichtet; heute sind in San Quentin rund 6.000 Gefangene untergebracht, darunter rund 600 zum Tode verurteilte.
Die Wärter im Justizvollzug waren höflich und freundlich. Nachdem ich durchsucht worden war, wurde mir gestattet, 30 Dollar für den Kauf von Lebensmitteln mitzubringen, und mir wurde gesagt, es sei nicht gestattet, Telefone, Kameras, Papier oder Stifte mit hineinzunehmen. An diesem Morgen war das Wetter wunderschön, und die Sonne schien. Ein Wärter begleitete mich, wir gingen rund 1.000 Meter, bevor wir zum Todestrakt kamen. Ich hatte erwartet, Williams hinter einer Barriere aus Panzerglas zu treffen, so wie ich seinerzeit Karla Fay Tucker und Gary Graham im texanischen Todestrakt getroffen hatte. Stattdessen konnte ich mit Williams von Angesicht zu Angesicht sprechen.
Er war bereits in einer kleinen Zelle gemeinsam mit Barbara Becnel, seiner Koautorin und langjährigen Unterstützerin, und mit Reverend Jesse Jackson. Bevor ich eintrat, legte Williams seine Hände hinter dem Rücken in eine kleine Öffnung der Stahltür, damit der Wärter ihm Handschellen anlegen konnte. Als ich drin war und die Tür wieder geschlossen, nahmen sie ihm die Handschellen wieder ab. Er streckte mir die Hand zu einem Hallo entgegen. Williams ist groß und gut gebaut – man sieht, dass er einmal Bodybuilder war. Er erschien ruhig und im Frieden mit sich selbst.
Ich schüttelte ihm die Hand und setzte mich neben ihn. Ich hatte so viele Fragen, und ich wusste, dass meine Zeit mit ihm begrenzt war. Ich sagt ihm, dass ich kürzlich eine Diskussion über seinen Fall im National Public Radio gehört hatte und sehr bestürzt war, als sein Anwalt zugab, Williams sei nicht bereit, sich für die Morde, für die er zum Tode verurteilt wurde, zu entschuldigen oder Reue zu zeigen. Ich fragte ihn: Warum? Er antwortete ruhig: „Ich bin unschuldig. Ich habe die Verbrechen, für die ich zum Tod verurteilt wurde, nicht begangen. Ich kann nicht Reue zeigen und für ein Verbrechen um Vergebung bitten, das ich nicht begangen habe, auch wenn ich mit meiner Weigerung mein Leben aufs Spiel setze. Ich kann nicht lügen, um zu leben.“
Er sah mir direkt in die Augen, und er fuhr fort: „Es gab keinerlei handfeste Beweise, die mich mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht hätten. Die vorgelegten Beweise bestanden aus dem Hörensagen eines diskreditierten Informanten, einem blutigen Fußabdruck – dem Abdruck eines Armeestiefels, der nicht meinem Fußabdruck entsprach. Es gab keine Fingerabdrücke, die mit meinen übereinstimmten.“
Ich nahm einen Schluck Wasser und fragte ihn, was er denn glaube, warum er für ein Verbrechen zum Tode verurteilt worden sei, das er nicht begangen habe. „Ich hatte einen schlimmen Ruf, und mein Ruf stand vor Gericht. Ich hatte die Straßengang Crips mitgegründet und war bekannt für Gewalttätigkeit. Ich wurde von einer ausschließlich weißen Geschworenenkammer schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Der Staatsanwalt Robert Martin lehnte drei schwarze Geschworene hintereinander ab, denn er wollte eine rein weiße Geschworenenjury. Er ist bekannt für Rassendiskriminierung. Außerdem hatte ich einen inkompetenten Anwalt.“
Er nahm einen Schluck von seinem Getränk und sagte mit leiserer Stimme: „Ich habe mich viele Male für meine Verbrechen entschuldigt, und ich habe ehrlich versucht, wieder gutzumachen.“ „Wie?“, fragte ich. „Ich habe neun Bücher geschrieben, um junge Leute zu erreichen und sie von einem Leben mit Gewalt und Straßengangs abzubringen. Ich habe mich selbst als Autodidakt weitergebildet. Wie Sie sich vorstellen können, gibt es hier wenig Raum zur Rehabilitation – es lag an mir, mich zu ändern. Die ersten acht oder neun Jahre habe ich ihnen die Hölle bereitet. Ich habe Jahre in Einzelhaft verbracht. Meine Läuterung kam durch meine Bildung, sie hat mir geholfen, ein Gewissen zu entwickeln.“
Es war mein erster Besuch in San Quentin, aber es war nicht mein erster Besuch bei einem Gefangenen im Todestrakt, dessen Hinrichtung unmittelbar bevorstand. Ich war betroffen und wütend, dass Williams nur noch 22 Tage zu leben haben sollte. Ich erinnere mich, dass ich die gleiche Bestürzung empfand, als ich Karla Fay Tucker und Gary Graham (bekannt als Shaka Sankofa) im Todestrakt in Texas besuchte. Beide hofften darauf, dass der damalige texanische Gouverneur George W. Bush und der texanische Begnadigungsausschuss ihre Todesstrafe in lebenslange Freiheitsstrafe umwandeln würden. Sie wurden beide mit der Giftspritze hingerichtet [Tucker 1998 und Graham im Jahr 2000; Anm. d. Red.].
Stanley „Tookie“ Williams’ Leben hängt vom kalifornischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger ab. Er hat die Befugnis, ihn zu begnadigen, wenn er ihn für unschuldig hält, er kann die Todesstrafe zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung umwandeln, wenn er der Meinung ist, dass Williams sich rehabilitiert hat, keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darstellt und die Verbrechen, für die er verurteilt wurde, bereut. Außerdem kann der Gouverneur einen Aufschub gewähren, um Williams’ Anwälten die Möglichkeit zu geben, „Beweise zu erbringen, die während des Prozesses besser berücksichtigt worden wären, aber damals und seitdem von der Staatsanwaltschaft unterdrückt wurden“.
Vor dem Berufungsgericht argumentierte Williams, dass Robert Martin, der Staatsanwalt, sich bei der Auswahl der Geschworenen rassistischer Diskriminierung schuldig gemacht habe. Williams verweist auf zwei vor dem Obersten kalifornischen Gericht überprüfte Fälle, an denen der gleiche Staatsanwalt beteiligt war. In einem urteilte das Gericht, Martins Vergangenheit zeige, „dass der Staatsanwalt sein Vorrecht zur Ablehnung von Geschworenen gezielt gegen Schwarze eingesetzt habe, um eine ausschließlich weiße Geschworenenkammer zur Verurteilung eines wegen Verbrechens an weißen Opfern angeklagten Schwarzen zu erhalten“.
Es steht kaum außer Frage, dass in Todesstrafenfällen ein kompetenter Anwalt den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann. Eine Person wegen der Unfähigkeit ihrer Anwälte hinzurichten und nicht wegen der Schwere ihrer Verbrechen unterstreicht die willkürliche und diskriminierende Natur der Todesstrafe. Dass Williams’ Anwälte der Auswahl der Geschworenen nicht widersprochen haben, sollte nicht bedeuten, dass Williams von den Gerichten keine Gerechtigkeit erfahren kann. In seinem Minderheitenurteil vom 2. Februar 2005 zur Entscheidung, Williams keine Wiederaufnahme seines Verfahrens zu gestatten, schrieb Richter Rawlinson: „Der Pflichtverteidiger versäumte mehr als eine Gelegenheit, diese einfache Eingabe zu verfassen – er hätte das nach der ersten, der zweiten oder der dritten Ablehnung machen können oder bei der Verabschiedung der gesamten Geschworenenkammer, als er wusste, dass das Vorgehen des Staatsanwalts mit einer rein weißen Jury enden würde. Wie man es auch dreht und wendet: Das Versäumnis des Verteidigers, Einspruch einzulegen, bedeutete eine ineffektive Verteidigung, und wir sollten uns nicht scheuen, das so zu benennen.“
Williams hat bei religiösen Führungspersönlichkeiten, Nobelpreisträgern und internationalen Berühmtheiten viel Unterstützung gefunden. Sein Fall hat die Debatte über Amerikas barbarische, mittelalterliche und überholte Todesstrafenpolitik weiter angeheizt. Wegen seiner guten Arbeit hat ein US-Berufungsgericht erklärt, Mr. Williams sei ein Kandidat für die Begnadigung, „der es wert ist“.
Der kalifornische Senat hat eine überparteiliche Kommission gebildet, die die Fairness der Justiz untersuchen soll. Die Kommission hat zwei Jahre Zeit, um die Probleme im Strafjustizsystem zu benennen, die zu irrtümlichen Verurteilungen und irrtümlichen Hinrichtungen führen, und der Legislative und dem Gouverneur spezifische Empfehlungen vorzulegen. Die Kommission hat mit ihrer Arbeit gerade erst begonnen.
Gouverneur Schwarzenegger muss diesen Prozess respektieren. Es wäre unverzeihlich, auch nur eine weitere Person hinzurichten, während eine überparteiliche Kommission kritische Fragen über die Justiz im Staat Kalifornien überprüft. Der Gouverneur muss alle Hinrichtungen aussetzen, bis die Arbeit der Kommission beendet ist.
Ich fordere Gouverneur Schwarzenegger dringend auf, Führungsstärke zu zeigen, Stanley „Tookie“ Williams zu begnadigen und seine Todesstrafe in lebenslange Haft ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung umzuwandeln. Ich hoffe, dass er anerkennt, dass es die Fähigkeit des Menschen, sich zu verändern und zu läutern, ist, die uns allen das Potenzial gibt, bessere Menschen zu werden. Stanley „Tookie“ Williams umzubringen wird den Teufelskreis der Gewalt vervollständigen und das Licht der Läuterung löschen, das in uns allen brennt. Gouverneur Schwarzenegger solle erkennen, dass Strafgerichte in den Vereinigten Staaten diejenigen Institutionen sind, bei denen die Bürgerrechtsbewegung am wenigsten angekommen ist. Die Gerichte haben versagt, und sie erfüllen noch immer nicht ihre Pflicht, einen gerechten Prozess für alle zu garantieren. Die Todesstrafe wird im Staat Kalifornien selektiv angewandt, gegen Minderheiten, Arme und diejenigen ohne politische Schlagkraft. Der Gouverneur sollte ein Moratorium für alle Hinrichtungen in Kalifornien erklären.
Der Text ist leicht gekürzt und redaktionell bearbeitet. Übersetzung: Bernd Pickert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen