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Theaterstück über FluchtBrutale Geschichten am Bahnsteig

Viele Theater bringen das Thema Flüchtlinge auf die Bühne. Das Stück „November und was weiter“ von der Gruppe Das Letzte Kleinod ist anders.

Irgendwann brannte das ganze Haus: Da floh die Roma-Familie nach Deutschland Bild: Kleinod

HAMBURG taz | Flüchtlinge: Viel war in den vergangenen Monaten dazu zu sehen auf deutschen Bühnen, manchmal standen sie da sogar selbst. An der jüngsten Produktion der Gruppe Das Letzte Kleinod um Regisseur Jens-Erwin Siemssen ist vieles anders als bei den meisten anderen Befassungen – nicht nur, dass „November und was weiter“ in Eisanbahnwaggon, Container und UN-Zelt in Szene gesetzt wird.

Gewiss, fundamental neu ist auch das erst einmal nicht: Ja, hinter den anfangs noch erschütternden Zahlen, die die Nachrichten bringen, verbergen sich Menschen. Und die verlassen nicht aus bloßem Schierschandudel – für Nichtbremische: Jux und Dollerei – ihre Heimat und nehmen den Weg nach Europa auf sich.

Immer wieder sind es junge Menschen, die ihre Familien zurücklassen, deren Erspartes sie für den Weg aufbrauchen – um dann, kaum angekommen, entweder gleich wieder zurückgeschickt werden; oder aber hier gar nicht tun können, was der Zweck der Reise war: Geld zu verdienen, um die Armut der Daheimgebliebenen zu lindern.

Dieses Aufbrechen erscheint meist als letzte Möglichkeit, lebensbedrohlichen Verhältnissen zu entkommen, die Reise selbst ist lebensgefährlich und Tausende schaffen es nicht an ihr Ziel – all das steht auch in der Zeitung, in Romanen, Reportagen, ist im Fernsehen zu sehen. Und doch trifft Siemssens Stück einen Punkt, den kaum eine jener anderen Inszenierungen erreicht.

Frösteln beim Einlass

Schon auf dem Weg zum Gestenseether Bahnsteig, wo „November und was weiter“ seit Donnerstag gespielt wird, fröstelt es einen, und das nicht allein der Temperaturen wegen. Es sind auch die Scheinwerfer, die das Dunkel punktuell erhellen wie Suchscheinwerfer: das Zelt hinter dem Bahnhof, das, kaum zu übersehen, vom UNHCR stammt, der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen. Über den Bahnsteig geht es dann in einen Waggon, der zunächst ganz gemütlich erscheint.

Im spärlich eingerichteten Wageninneren bollert ein Ofen, auf einer Kochstelle wird Mokka gebraut. Eine alte Dame schläft im Sessel, später wird sie weltenmüde seufzend aufstehen, einen Scheit aufs Feuer werfen.

Lange herrscht Stille. Bis die jungen Frauen zu erzählen beginnen: von Serbien und davon, wie sie dort als Roma behandelt wurden. Manchmal fuhren junge Leute nach der Disko noch am Haus vorbei, die Scheiben einwerfen, so ein-, zweimal im Monat. Manchmal wurden sie angegriffen, verprügelt.

Einmal wurde das Haus sogar angezündet, der Opa, der im ersten Stock wohnte und nicht mehr gut zu Fuß war, schaffte es nicht heraus. Jetzt ist er tot.

So packte der Vater eines Tages seine Kinder ein und los ging es nach Deutschland, pro Person 600 Euro bezahlte er für ein Leben, das nicht ganz so bedrohlich sein sollte – auch wenn hier schon mal die Staatsgewalt die Tür eintritt. Geduldet ist die Familie, und das noch bis November. Und was dann?

Die nächste Station ist das UNHCR-Zelt. Hier spielt eine noch brutalere Geschichte: Jahre im Lager, Flucht aus dem Sudan, über Libyen, Polizeigewalt, ausgeschlagene Zähne – so ganz lässt sich nicht ausmachen, wessen Geschichte da eigentlich genau erzählt wird.

Wer im Zelt ein „echter Flüchtling“ ist, wer Schauspieler, wer Publikum, wer Chor. Schauspieler sprechen Texte, die offenbar aus Erzählungen der Flüchtlinge montiert sind: rudimentäre Sätze, gebrochene Syntax. Authentisch? Eher real – aber nicht 1:1.

Die dritte Szene spielt in einem Kühlcontainer, in dem das Publikum auf provisorischen Bänken zusammengepfercht wird. Schlimmer aber hat es die beiden junge Männer aus Afghanistan erwischt, die auf dem Weg nach Griechenland sind: Zwischen Europaletten kauern sie in Dunkelheit und Kälte, gepinkelt wird in die Flasche. Einer der beiden verließ die Heimat, weil er das falsche Mädchen liebte. Sie wollten heiraten, gingen zusammen ins Kino. Das Mädchen schlugen die eigenen Brüder tot.

Nicht schlauer, aber herzensklüger

Ein Drinnen, das nur notdürftig schützt, das bedrohliche Draußen, eine Notration, die sie mit uns teilen – und ein Lied. Das ist den drei Geschichten gemeinsam. Und die Hoffnungen, die zuverlässig enttäuschten, auch wenn die Sudanesen, die in Geestenseth untergebracht sind, jetzt wenigstens Fußball spielen können, statt unablässig um ihr Leben zu fürchten.

Was Siemssen mit minimaler Requisite zeigt, lässt uns, wenn nicht schlauer, dann doch herzensklüger zurück. Das Theater ist hier ein Stück sozialer Praxis, involviert die Flüchtlinge und nimmt sie ernst. Und entwickelt eine Dringlichkeit, die den Zuschauenden geradezu zwingt, eine Haltung einzunehmen.

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