: Der Frosch ist wieder König
SILVANER Lange wurde er als Zechwein verkannt. Doch die rheinhessischen Winzer erzeugen einige der feinsten dieser Sorte: Aus Ernsthaftigkeit wird ein hoher Lustfaktor
VON STEPHAN REINHARDT
Flörsheim-Dalsheim im Oktober 2009: Klaus-Peter Keller zieht mit einem 20-köpfigen Team durch die zarte Hügellandschaft des Wonnegaus, ganz im Süden Rheinhessens. Es ist eine junge Truppe von Wein-Aficionados und Keller-Verehrern aus der ganzen Welt. Sie kommen aus Norwegen, Schweden, Frankreich und sogar aus den USA, um ihrem Lieblingswinzer bei der Ernte 2009 zu helfen. Vielleicht, so hoffen sie, gelingt es ihnen so, ein paar Flaschen der so begehrten, aber auch kostspieligen Keller-Weine zu erstehen. Viele von ihnen sind nämlich ausverkauft, noch bevor sie in den eigentlichen Verkauf kommen. Die fulminanten „großen Gewächse“ des Jahrgangs 2008 zum Beispiel verlassen erst im April 2010 den Keller, sind aber bereits seit Sommer 2009 restlos zugeteilt. Der Hype um Kellers in der Jugend streng verschlossene, über die Jahre aber großartig heranreifende Spitzenweine ist mit dem Run auf die ganz großen Weine Burgunds zu vergleichen. Doch im Gegensatz zu vielen Franzosen, die ihren Weinkeller hinter fest verschlossenen Holzpforten hüten und den Kontakt zu passionierten Weinfreunden zumeist scheuen, selbst wenn diese viel Geld auszugeben bereit sind, ist bei den Kellers in Flörsheim-Dalsheim immer Tag der offenen Tür. Julia und Klaus-Peter Keller lassen ihre Kunden eben gerne teilhaben am Erlebnis Wein, selbst dann, wenn er so gut wie ausverkauft ist. So wie jetzt.
Aber da draußen steht bereits der neue Jahrgang, und damit er ebenso gut wird wie die beiden vorangegangenen, muss das Team früh raus, denn in der Nacht hat es geregnet, das erste Mal seit viereinhalb Wochen. Seit 6 Uhr morgens rütteln die jungen Leute an jedem einzelnen Rebstock, um das Wasser von der Laubwand zu schütteln, anschließend werden die Trauben mit einer Turbine, die nichts tut, als Luft zu blasen, getrocknet. „Das ist zeit- und personalaufwendig, aber viel besser als Nichtstun“, sagt Keller. „Mit dieser Extraarbeit reduzieren wir die Fäulnisgefahr, die immer dann am größten ist, wenn es feucht ist“, so Keller weiter. Die Arbeit bereitet der Truppe augenscheinlich Spaß. Und dem Chef ebenso: „Es geht doch nichts über eine motivierte Truppe, die sich mit der Weingartenarbeit bestens auskennt und ihr künftiges Trinkvergnügen durch ihre Arbeit selbst mit beeinflussen kann.“ Während Keller nicht für diese, sondern auch andere peinlich genaue Arbeitsdurchgänge im Weingarten verständnisloses Kopfschütteln bei weit weniger peniblen Kollegen erntet, quittiert die internationale Weinkritik Keller und seine in jeder Beziehung außerordentlichen Weine seit Jahren mit Bestnoten wie kaum ein zweites deutsches Weingut.
In den letzten Tagen vor dem Regen wurde der Silvaner gelesen, der nicht ganz so spät reift wie der Riesling. Anne, die Norwegerin, die in ihrer Heimat – mit Kellers Ratschlägen – sogar Riesling kultiviert, ist noch immer völlig begeistert vom Geschmack der Trauben: „Durchdringend fruchtig und süß, dabei pikant und wunderschön griffig.“ Und David, der mehrmals im Jahr anreisende Freund aus Paris, schwärmt vom Aussehen der Beeren: „Goldgelbe Schalen mit braunen Sommersprossen, einfach perfekt!“ – „Wenn der Most jetzt auch gut durchgärt, werden wir ein traumhaftes Silvanerjahr haben“, prophezeit Keller.
Sein von alten, etwa 40-jährigen Reben stammender Silvaner trocken „S“ konnte 2009 von der Blüte bis zur Lese 137 Tage lang reifen – und hätte sogar noch länger am Stock bleiben können, so gesund waren die Trauben. Doch Keller will keinen, wie er es nennt, „dickarschigen“ Silvaner; „keinen fetten, wuchtigen Wein eben, sondern einen mit Festigkeit und feiner, klarer mineralischer Frucht, den man gerne trinken mag“. Sein eleganter und vielschichtiger 2007er Silvaner „S“ (rund 20 Euro), zumal wenn dekantiert, also zum Luftholen in die Karaffe geschenkt und aus großen Burgundergläsern genossen, schmeckt gerade besonders gut nach reifen gelben Früchten und Kreide. „Wie ein feiner Chablis“, findet Ana, ebenfalls Französin, die es ja wissen muss.
In der Tat schreiben die Silvaner der „S-Klasse“, wie sie nicht nur von Keller oder seinem kongenialen Konkurrenten Philipp Wittmann in Westhofen erzeugt werden, sondern auch hoffnungsvollen Nachwuchsstars wie etwa Florian Fauth vom Weingut Seehof, das bislang jüngste Kapitel der noch jungen rheinhessischen Erfolgsgeschichte. Diese alte, aus dem Alpenraum stammende Kreuzung aus Österreich weiß und Traminer haben die Rheinhessen erst in den letzten Jahren als Qualitätssorte so richtig wiederentdeckt.
Zwar reüssiert der mit einem auffällig gelben Quadrat etikettierte „RS Rheinhessen Silvaner“ bereits seit Mitte der 1980er-Jahre mit modernen, feinfruchtig-rassigen Sortenvertretern für das tägliche Silvanervergnügen, und auch die „Selection Rheinhessen“ kürt seit Jahren erstklassige Silvaner. Doch anspruchsvolle Silvaner der absoluten Spitzenklasse, noch dazu in geballter Menge und zu oftmals überaus erschwinglichen Preisen, sind eine eher neue Entwicklung in Deutschlands größtem und zurzeit wohl auch dynamischstem Weinanbaugebiet (26.444 Hektar Reben, davon 9,3 Prozent bzw. 2.467 Hektar Silvaner).
Zumeist stammen sie von anscheinend unaufhörlich aus dem Boden sprießenden jungen Winzern, die erst vor wenigen Jahren das elterliche Gut übernommen haben und das Potenzial alter, tief verwurzelter Reben zu nutzen wissen – mit handwerklichen Methoden und großen Holzfässern übrigens, die eher an Großvaters „In der Ruhe liegt die Kraft“- als an Vaters „Schneller ist sicherer“-Zeiten erinnern.
Tatsächlich hatte der Silvaner in dem zwischen Mainz, Worms und Bingen gespannten Weindreieck lange Zeit die alles überragende Rolle gespielt. Vor 100 Jahren waren deutlich mehr als 60 Prozent der rheinhessischen (wie überhaupt der deutschen) Rebfläche mit Silvaner bestockt. Der Niedergang begann erst, als frühreife Sorten wie Müller-Thurgau, Kerner, Bacchus, Ortega und andere für reichlich Masse statt Klasse sorgten. Vor allem der billige Markenwein und Exportschlager „Liebfrauenmilch“, der auch diese Sorten enthält, hat dem Image nicht nur des rheinhessischen, sondern überhaupt des deutschen Weins schweren Schaden zugeführt.
Der Silvaner verzeiht hohe Erträge jedoch am wenigsten, da er als Massenwein dünn, säuerlich-grün und erdig schmeckt. Zu dumm für die an sich feine Sorte, dass just in ihrer schlimmsten Phase – den 1970er und 1980er Jahren – einige bedeutende Weinbücher geschrieben wurden (aus denen bis heute kritiklos abgeschrieben wird), die den seinerzeit vorgefundenen Silvanercharakter für dessen wahren hielten, womit der König noch bis vor kurzem als Frosch verkannt war.
Sind es seit etwa 20 Jahren die Rieslinge, mit denen die deutschen, gerade aber auch die rheinhessischen Winzer erfolgreich Imagekorrektur betreiben, gewinnt neuerdings auch der lange Zeit als einfacher Zech- und Schoppenwein reduzierte Silvaner neue Freunde, die nicht nur einen Saisonwein zum Spargel suchen, sondern einen ganzjährigen Essensbegleiter. Da er nicht über eine ausgeprägte Frucht verfügt und seine Säure eher fein als rassig ist, eignet sich Silvaner als universaler Begleiter zu vielerlei Speisen. Nicht zuletzt, weil er selbst so vielfarbig daherkommt wie ein Chamäleon: Sind die Silvaner vom roten Schieferboden der Rheinfront eher seidig-elegant und von warmtöniger Fülle, zeigen die vom Kalkboden im Süden eine kühle Zurückhaltung, millimeterscharfe Präzision sowie eine kraftvolle Eleganz. Die Silvaner von den teils tonigen, teils lössigen Lehmböden munden dagegen füllig, charmant und offenherzig feinfruchtig. Einen schwachen, nichtssagenden Silvaner kann sich heute allerdings kein Winzer mehr erlauben, erst recht nicht in einem qualitativ herausragenden Jahrgang wie 2009. Gott und Kellers aufwendigen Pioniertaten sei Dank.
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