Fehler beim Atomausstieg: Schadenersatzrisiko ignoriert
Im Kanzleramt war bekannt, dass das Verfahren zum Moratorium nach Fukushima rechtlich fragwürdig war. Unternommen wurde aber nichts.
BERLIN taz | Es waren dramatische Zeiten: Am 11. März vor vier Jahren wurde das Atomkraftwerk im japanischen Fukushima durch einen Tsunami so schwer beschädigt, dass es zu einer Kernschmelze kam. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses entschieden Bund und Länder damals, die acht ältesten deutschen Atomreaktoren für eine Sicherheitsüberprüfung für zunächst drei Monate vom Netz zu nehmen.
Dass es im zuständigen Bundesumweltministerium seinerzeit eine heftige Auseinandersetzung um das Verfahren gab, ist mittlerweile gut dokumentiert: Der Leiter der für die Atomaufsicht zuständigen Arbeitsgruppe, der eine ausführliche Begründung für jedes einzelne AKW gefordert hatte, um spätere Schadenersatzforderungen zu verhindern, wurde damals kaltgestellt.
Doch neue Unterlagen, die der taz vorliegen, zeigen nun, dass auch das Kanzleramt über die rechtlichen Risiken des gewählten Verfahrens für das Atommoratorium und mögliche Schadenersatzforderungen informiert war.
Schon in einem Vermerk, der fünf Tage nach Fukushima im Kanzleramt erstellt wurde, ist von einer „möglichen Entschädigung“ die Rede, für die es aber „hohe Hürden“ gebe. In einer aktualisierten Fassung des Papiers wird dann einige Wochen später im Detail die Kritik am Verfahren dargestellt, mit dem die acht ältesten deutschen Reaktoren vom Netz genommen wurden. Der Gefahrenverdacht sei „nicht hinreichend begründet“, die Verfügungen zur Stilllegung seien „zu pauschal“.
Am Mittwoch jährt sich zum vierten Mal die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) warnte aus diesem Anlass ebenso wie Grüne und Linke vor den Risiken der Atomkraft.
AtomkraftgegnerInnen rufen für Samstag zu einer Demonstration in Düsseldorf auf. Vor der Eon-Zentrale wollen sie neben einem schnelleren Ausstieg auch fordern, dass die Atomkonzerne sich nicht vor ihrer finanzielle Verantwortung drücken dürfen.
Allerdings, heißt es weiter, habe das Bundesumweltministerium diesen Argumenten widersprochen. Dieser Einschätzung hat das Kanzleramt offenbar vertraut, denn auf eine Nachbesserung der fragwürdigen Begründung wurde verzichtet.
„Dafür trägt die Kanzlerin die Verantwortung“
Später entschied das Bundesverwaltungsgericht für das AKW Biblis, das Verfahren sei fehlerhaft gewesen. Auf dieser Grundlage klagt RWE derzeit auf Schadenersatz über 235 Millionen Euro. Der Beamte, dessen Kritik am gewählten Verfahren man im Umweltministerium seinerzeit ignoriert hatte, äußerte vergangene Woche im hessischen Untersuchungsausschuss die Vermutung, dass die Bescheide „vorsätzlich“ fehlerhaft waren.
Das Kanzleramt geht davon aus, dass Kanzlerin Angela Merkel und ihr damaliger Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (beide CDU) nicht persönlich über den Vermerk informiert waren. Über eine „Befassung der Hausleitung“ lägen „keine Informationen“ vor, heißt es in einer Antwort auf eine Anfrage der atompolitischen Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl.
Diese meldet erhebliche Zweifel an der Aussage an: „Es ist nicht glaubhaft, dass für einen so wichtigen Vorgang erst eine Leitungsvorlage erstellt wird, diese sich aber dann im Nebel der Hausleitung verloren haben soll“, sagte Kotting-Uhl der taz. Wichtige Entscheidungen müssten sauber nachvollziehbar sein. „Dafür trägt die Kanzlerin die Verantwortung.“ Kotting-Uhl hatte bereits zuvor einen Untersuchungsausschuss auf Bundesebene angeregt; eine Entscheidung darüber steht noch aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen