: Sie nannten ihn Mehmet
LEBENSLANG Muhlis Ari wurde als erstes Kind in der Geschichte der Bundesrepublik ohne seine Eltern in die Türkei abgeschoben. 15 Jahre danach will er zurück und kämpft mit seiner Geschichte
1 Muhlis Ari wird 1998 im Alter von 14 Jahren in die Türkei abgeschoben. Er hatte mehr als 60 Straftaten begangen, wurde aber nur für eine verurteilt.
2 Das Bundesverwaltungsgericht nennt die Abschiebung 2002 rechtswidrig. Ein neues psychiatrisches Gutachten bescheinigt ihm, sich gebessert zu haben. Ari kommt zurück nach München, wo er 2005 zum zweiten Mal verurteilt wird, seine Eltern hatten ihn angezeigt. Er verletzt die Bewährungsauflagen und flieht in die Türkei.
3 Jetzt will Ari zurück. Er hat einen Antrag gegen seine Ausweisungsverfügung eingereicht, über den die Stadt München in Absprache mit der bayerischen Landesregierung entscheiden wird.
AUS ÇERKEZKÖY UND MÜNCHEN SEBASTIAN KEMPKENS
Muhlis Ari sitzt auf der Terrasse eines Cafés und versucht, seine Vergangenheit zu verkaufen. Was denn genau geplant sei, fragt er und zieht an seiner Zigarette. „Fotos? Fotos kosten extra.“ Sein massiger Körper steckt in einem schwarzen Anzug mit Goldknöpfen, das Haar glänzt vom Gel, sein fülliges Gesicht ist frisch rasiert.
Es ist ein Samstag im März in der türkischen Industriestadt Çerkezköy, Istanbul liegt eine gute Autostunde entfernt. Ari sagt, er sei extra früh aufgestanden für das Interview. Jetzt will er Geld sehen, Geld für die Geschichte seiner Jugend, für Mehmet. Dass kein Honorar verabredet war, die taz ihren Interviewpartnern grundsätzlich nichts zahlt, es ist ihm egal.
„Meine Untergrenze für die ganze Geschichte sind 1.000 Euro. Cash. Jetzt und hier, nicht irgendwann.“ Dafür, das verspricht er, gibt es eine Story, die vorher niemand hatte. „Es geht um Gauck und den Brief. Alle werden von dir abschreiben, auch die Bild. Das wäre ein Sprung in deiner Karriere. Also ruf deine Redaktion an und mach das Geld klar, damit wir endlich anfangen können.“
Ari sitzt da wie ein Händler. Die Perlen einer Gebetskette wandern durch seine rechte Hand, an der linken trägt er einen Ring, darunter drei tätowierte Punkte, ein Knast-Symbol, das Zusammenhalt unter Häftlingen zeigen soll.
Dann sagt er: „Sorry, aber ich bin nur professionell. Ich bin Mehmet, eine öffentliche Person. Mehmet ist mein Geschäft.“
Die Geschichte, die Ari verkaufen will, beginnt mit einem jugendlichen Kleinverbrecher, der in München-Neuperlach Nasen bricht und Autos knackt. Der im Wahlkampf zwischen die Fronten der Politik gerät und danach abgeschoben wird in die Türkei. Der wiederkommen darf, zum zweiten Mal verurteilt wird und vor der Strafe in die Türkei flieht. Jetzt, 15 Jahre nach der ersten Mehmet-Schlagzeile, geht die Geschichte weiter.
Muhlis Ari will zurück nach München. Er ist heute 28 und hat beim Kreisverwaltungsreferat, kurz KVR, der Sicherheitsbehörde der Stadt, einen Antrag gestellt. Das KVR soll die Ausweisungsverfügung gegen ihn aufheben. Damit er die noch ausstehende Haftstrafe nicht verbüßen muss, will er ein Gnadengesuch einreichen.
Er hat sogar einen Brief an Joachim Gauck geschrieben. Der Bundespräsident sollte dafür sorgen, dass seine Vergangenheit sachlich diskutiert wird, dass er eine Chance bekommt. Gauck antwortete nicht.
Vielleicht sind seine Anträge die letzte Episode der Mehmet-Erzählung. Sein letzter Versuch, zurück nach Deutschland zu kommen.
„Wenn i scho zuaschlog’, dann g’scheit“, sagt er
Diesen Versuch organisiert sein Rechtsanwalt Burkhard Benecken. Benecken ist ein Anwalt, der die Öffentlichkeit sucht, der am Telefon stolz erzählt, dass RTL eine Serie über ihn plane – „Der Strafverteidiger“. Seinen Mandanten nennt er Mehmet, statt seinen bürgerlichen Namen zu benutzen. Am Tag vor dem Treffen schreibt er eine SMS: „Mehmet empfängt Sie morgen gerne!“ Dass Ari eigentlich keine Lust auf ein Interview hatte, verschweigt Benecken. Ari sagt, sein Anwalt vertrete ihn ohne Bezahlung. Benecken wisse schon, was die Marke Mehmet wert ist.
Das Problem: Die Marke steht für nichts Gutes. Und jetzt sitzt Ari hier und soll die Geschichte seiner Jugend erzählen, obwohl er sie loswerden will.
Um zu verstehen, wie es für ihn so weit kommen konnte, muss man zurück ins München des Jahres 1998. Nach München-Neuperlach. Ein Viertel, das für viele nur Probleme und Plattenbauten bedeutet. Dort wird Muhlis geboren, dort wächst er auf. Sein Vater Yilmaz kommt 1968 nach Deutschland, um bei BMW am Fließband zu arbeiten. Zwei Jahre später holt er seine Frau Safiye nach, die erst Hausfrau, dann Putzfrau in einem Hotel ist. Beide sind konservativ, sie sprechen kaum Deutsch.
Muhlis ist der jüngste von drei Söhnen, der Vater erzieht ihn mit Schlägen. Ari stählt seine Arme mit Hanteltraining, ist breiter und größer als Gleichaltrige. Je stärker er wird, desto mehr verlieren die Eltern die Kontrolle. Ihre Welt endet an den Wänden ihrer Wohnung, Muhlis’ Welt beginnt dahinter. Sie sagen „Merhaba“, er „Grüß Gott“ und „Wenn i scho zuaschlog’, dann g’scheit“.
Mit zehn bedroht er eine Mitschülerin mit einem Butterfly-Messer. Einem Jungen bricht er die Nase, zweimal. In knapp drei Monaten kommt er nur zweimal in die Schule, er wiederholt die fünfte Klasse mehrmals.
Dabei ist Muhlis nicht dumm: Ein psychiatrischer Gutachter bescheinigt ihm einen leicht überdurchschnittlichen IQ. Als er zwölf ist schlägt er seinem Schuldirektor mit der Faust ins Gesicht, weil der schlecht über seine Familie geredet hatte. In seinem Hauptschulzeugnis steht: „Sein brutales Verhalten gegenüber Mitschülern muss sich bessern.“ Ari lernt, nur nicht für die Schule, sondern für sein Leben: dass die Faust härter ist, wenn man ein Feuerzeug in die Hand nimmt. Dass man auch zuschlägt, wenn die anderen mehr sind. Das bringt Respekt.
Der Vater fesselt seinen Sohn an einen Heizkörper in der Wohnung, um ihn daran zu hindern, nachts noch durch die Straßen zu ziehen. Ari ist 13 Jahre alt, seine Polizeiakte 61 Straftaten lang.
In dieser Zeit wird die Politik auf ihn aufmerksam. In Bayern ist Landtagswahlkampf, die CSU profiliert sich mit einer Kampagne gegen „kriminelle Ausländer“. Der damalige Innenminister Günther Beckstein und der Chef des Kreisverwaltungsreferats, Hans-Peter Uhl, wollen zeigen, wie hart sie durchgreifen können. Sie suchen einen Jugendlichen, an dem sie ein Exempel statuieren können.
Alexander Eberth, Aris damaliger Anwalt, sagte in einem Prozess, der inzwischen verstorbene Staatsantwalt Wolfgang Heimpel habe ihm berichtet, dass er gemeinsam mit Uhl eine Liste mit zehn Kandidaten zusammengestellt habe. Uhl will der taz dazu heute nichts sagen.
Mit seiner 62. Tat liefert er die bessere Begründung
Es gibt Jungs, die krimineller als Ari sind. Aber die Wahl fällt auf ihn, der keinen deutschen Pass hat. Schon am 22. Mai 1998, Muhlis ist noch 13 und nicht strafmündig, schickt das Kreisverwaltungsreferat einen Brief an seine Eltern, der der taz vorliegt. „Ausweisung des türkischen Staatsangehörigen ARI, Muhlis, geb. 18.06.1984 in München“, steht in der Betreffzeile. Im Folgenden listen die Beamten alle 61 Straftaten auf. Der Junge sei in einen Kindergarten eingebrochen – Schaden mehr als 50.000 Mark. Der Rest sind Diebstähle, Schlägereien. Muhlis, schreiben die Beamten, beeinträchtige „die öffentliche Sicherheit oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland“.
Ari hatte für keine seiner Taten vor Gericht gestanden, es ist fraglich, ob die Abschiebung durchgekommen wäre. Aber er liefert mit seiner 62. Tat einen besseren Grund. Aus Gerichtsakten und einem psychiatrischen Gutachten über den 14 Jahre alten Ari lässt sich die Tat rekonstruieren.
Ari ist gerade 14 und damit strafmündig, da fährt er mit drei Freunden auf ein Frühlingsfest im Perlacher Forst bei München. Sie trinken zwei, drei Bier, Ari trägt ein weißes Stirnband über den dunklen Locken. Gegen halb zwölf wird es den Jungs langweilig im Zelt, sie gehen raus, auf einen dunklen Schotterweg. Dort steht ein älterer Junge, Ari fragt ihn: Hast du Zigaretten? – Nein. – Lüg halt nicht, du hast schon welche. Hast du Geld? – Ach, verpiss dich. Ari und seine Freunde stürzen sich auf den Jungen und ziehen ihm die Beine weg. Sie schlagen mit einer Holzlatte auf ihn ein, bis er bewusstlos ist.
Einen Tag später sitzt Ari, den das Kreisverwaltungsreferat aus Datenschutzgründen nur Mehmet nennt, in Untersuchungshaft. JVA Stadelheim, Einzelzelle. Bis zu seiner Abschiebung wird er sie nicht mehr verlassen. Während seine Freunde zu wenigen Wochen verurteilt werden, bekommt Ari ein Jahr auf Bewährung. Wenig später beantragt die Staatsanwaltschaft, seinen Haftbefehl aufzuheben, um ihn abschieben zu können. Der Richter des Amtsgerichts weigert sich aber, sein eigenes Urteil zu torpedieren.
Dann geschieht etwas Ungewöhnliches. Es ist Freitag Abend, der 13. November. Alexander Eberth sitzt im Büro, das Telefon klingelt. Der Anwalt, ein gemütlicher Mann, weißer Bart, buschige, schwarze Augenbrauen, betreut Ari seit Anfang 1998. Heute noch stehen in seinem Archiv dutzende Aktenordner mit der Aufschrift „Muhlis A.“.
Eberth erinnert sich: Zuerst ist der Staatsanwalt am Telefon. Es gebe einen Antrag für Ari auf Zustimmung zur Ausreise. Kurz darauf, gegen 19:30 Uhr, ein Journalist der Bild-Zeitung: Die Strafkammer des Landgerichts tagt, Ari soll abgeschoben werden. Eberth ruft den Vorsitzenden der Strafkammer an: Stimmt das, fragt er. Mir steht als Anwalt nach dem Gesetz Gehör zu, aber ich wurde noch nicht gehört.
Wieso, Sie werden doch gehört. Sie telefonieren doch gerade mit mir, antwortet der Vorsitzende.
Noch am Abend ist Aris Abschiebung beschlossen, am nächsten Tag sitzt er in einer Lufthansa-Maschine Richtung Istanbul. Ohne seine Eltern, nur mit seiner Freundin Jasmin, drei Grenzschutzbeamten und einem Pulk Journalisten. Jahre später, sagt Eberth, habe ihm ein Richter gesagt: Sie können sich gar nicht vorstellen, was auf uns für ein Druck ausgeübt wurde.
In Istanbul zeigt sich, wie sehr Mehmet zu einem Medienereignis geworden ist. Am Flughafen warten Kameras und Mikrofone, Reporter quartieren Ari und seine Freundin im Hilton-Hotel ein. Der Musiksender Kral TV stellt den Jungen als Moderator ein, obwohl er kaum Türkisch spricht. Ari verdient plötzlich 4.200 Mark im Monat, hat eine Limousine mit Fahrer, feiert mit Models. Irgendwas muss er richtig gemacht haben.
Nach zwei Monaten ist der Mehmet-Hype vorbei, Ari wird gefeuert. Jetzt ist er allein in einem fremden Land, in dem er nur seine 87-jährige bettlägrige Großmutter wirklich kennt. Er geht nach Çerkezköy, wo seine Eltern ein kleines Haus haben und arbeitet in einer Schilderwerkstatt. Der Junge, der es in München in drei Monaten zweimal in die Schule schaffte, muss sein Leben in die eigene Hand nehmen.
Die Marke Mehmet, wegen der er vorher im Hilton schlafen durfte, sie ist nichts mehr wert. In München arbeitet der Anwalt Eberth an einer Rückkehr. Mit Erfolg: 2002 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht, dass Aris Ausweisung rechtswidrig war. Das Grundgesetz garantiere den Schutz der Familie. Das gelte auch für „faktische Inländer“ wie Ari, die in Deutschland geboren sind aber keinen deutschen Pass besitzen. Zudem könne ein Kind nicht wegen einer einzigen Verurteilung abgeschoben werden.
Zurück in München zeigt sich: Ari wird Mehmet nicht mehr los.
Noch vor der Ankunft des inzwischen 18-Jährigen titelt Bild: „Verschon uns bitte, Mehmet!“ Und Beckstein sagt: „Für mich bleibt Mehmet ein Ausländer.“
Aris „Resozialisierung“ hat etwas von einer Reality Soap. Alle paar Tage eine neue Folge Mehmet. Als er seinen Hauptschulabschluss mit der Note 1,5 macht, nennt ihn die Münchner Lokalpresse einen „bayerischen Musterschüler“. Eine Lehrstelle findet er dennoch nicht. „Der war bekannt wie ein bunter Hund“, sagt Eberth, „einen wie Mehmet wollte natürlich niemand.“
Sein Anwalt soll ihm jetzt helfen zurückzukommen
Als Ari schon drei Jahre in München verbracht hat, kommt der Mehmet zurück, den Uhl und Beckstein beschworen hatten. 2005 erstatten Aris Eltern Anzeige gegen ihren Sohn: Er habe sie sechs Wochen lang bedroht und erpresst. Er soll gesagt haben: „Euer Tod kommt aus meiner Hand, ich steche euch ab.“
Ari legt ein Geständnis ab, auf das Jahr auf Bewährung von 1998 kommen sechs Monate drauf. Die Bewährungsauflage: Ari soll 90 Stunden Rasenmähen auf einem Friedhof. Erst kommt er noch, dann fälscht er die Unterschriften auf dem Stundenformular. Die Fälschung fliegt auf – Ari flieht in die Türkei. Die Stadt München schickt ein Schreiben: „Sie begehen Körperverletzungen und verbreiten Angst und Schrecken“, es gehe um die „Abwehr der Gefahr weiterer Straftaten“. Es ist die Ausweisung, gegen die er nun kämpft.
Wenn Ari heute durch die Straßen seiner Stadt läuft, merkt man ihm an: Er versucht, das Beste aus seiner Lage zu machen. Çerkezköy ist eine Stadt wie aus dem Fertigbaukasten. Fenster, Balkon, Fenster, immer im gleichen Muster. Die Stadt wächst schnell, weil die Jobs in den Textilfabriken viele Menschen anziehen. Freizeitmöglichkeiten fehlen. Man arbeitet in Çerkezköy, Zeit zum Leben bleibt kaum.
Und Ari wohnt nicht einmal direkt in der Stadt. Er wohnt in Büyükyoncali, einem Vorort, durch den Reisebusse in einer Minute durchrauschen. Schule, Hauptstraße, Moschee, Ende. In Çerkezköy schlendert Ari umher, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. „Das ist das Haus, wie heißt es noch, wo der Bürgermeister wohnt – genau, Rathaus.“ Da vorne, die Einkaufsmeile. „So schön hier“, sagt er immer wieder, „viel ruhiger als Istanbul“. Vor einem schmalen Haus bleibt er stehen, deutet auf ein blau-weißes Schild mit der Aufschrift „Paşam Turizm“: „Da oben ist mein altes Büro.“
Ari hat sich als Manager versucht. Er wollte Chef sein, den Leuten in Deutschland zeigen: Schaut her, ich kann etwas auf die Beine stellen. Also gründete er ein Taxi-Unternehmen und eine Paintball-Anlage, auf der andere Chefs ihre Mitarbeiter bei Betriebsfeiern spielen lassen sollten. Das Taxi-Unternehmen war schnell wieder eingestellt, auch die Paintball-Anlage lief nicht wirklich.
Einmal besuchte ihn RTL, Ari zog seinen schwarzen Anzug an, war freundlich, zeigte der Reporterin seine Anlage. Es half nichts. Alles, was in Deutschland ankam, war eine Schlagzeile: „Crime-Kid ‚Mehmet‘ handelt jetzt mit Waffen“. Inzwischen hat er auch die Anlage aufgegeben. Er sagt, er gehe jetzt zu den Firmen und biete an, sein Paintball-Programm auf deren Gelände abzuziehen. „Das Geschäft läuft.“ Und doch, Ari will zurück nach München. Denn selbst, wenn es nicht läuft: Ari würde nie in einer der Fabriken arbeiten. Er möchte einen Job, den er herzeigen kann. Und so beginnt er wieder, zu verkaufen.
Er erzählt eine Geschichte, die er schon vielen Journalisten vorgetragen hat. Für München plane er ein soziales Projekt für Jugendliche, die auf die schiefe Bahn geraten sind. „Afghanen, Albaner, Afrikaner, ich hab in Neuperlach mit all denen abgehangen, ich verstehe sie.“ Wer sollte ihnen besser helfen können, als er? „Das ist die zweite Geschichte, die ich dir erzählen will, nach der mit Gauck und dem Brief. Aber dann musst du noch ein bisschen Geld drauflegen.“
Helfen soll ihm bei diesem Projekt sein Anwalt Benecken, der den Rückkehrplan schon mal im Fernsehen inszeniert. Als Günther Beckstein im November in der TV-Show „Stuckrad-Barre“ auftritt, wird ein Anruf Beneckens in die Sendung geschaltet. „Ja, Benecken, Guten Abend. Ich würde gerne mit Herrn Beckstein sprechen.“ Auf Bildschirmen im Studio werden Fotos von Ari und seinem Anwalt eingeblendet. Stuckrad-Barre reicht den Hörer weiter. „Beckstein.“
Der Anwalt sagt: „Wir haben eine Mission vor, nämlich die Rückholung meines Mandanten. Wir würden gerne auf Ihre Unterstützung setzen.“ Beckstein runzelt die Stirn. „Da kann ich Ihnen nicht sonderlich mit dienen.“ Ari solle nicht schlechter, aber auch nicht besser behandelt werden. Dann geht es um Juristisches, schließlich lenkt der Moderator ein: „Das ist ein bisschen komplizierter, als wir gehofft hatten. Wir dachten, herzblattartig eine Zusammenführung herbeiführen zu können.“
Der Deal hat nicht geklappt. Was funktioniert hat, ist Mehmet, das Medienereignis. Ari ist damit in eine Spirale geraten, die sich endlos weiter dreht. Die Mehmet-Geschichte: Über die Jahre haben viele davon profitiert, Politiker, Anwälte – und Journalisten. Dass ihm jetzt, in Çerkezköy wieder ein Reporter gegenüber sitzt, befeuert die Spirale weiter.
Das Interesse an Ari und seiner Vergangenheit lässt nicht nach, RTL und auch die taz, sie alle wollen diese Geschichte aus Aris Jugend. Umso schwerer ist es für Ari, sich von seiner Vergangenheit zu lösen – er müsste jede Interviewanfrage ignorieren. Der ehemalige Anwalt Eberth, den Ari eine Vaterfigur nennt, sagt: „Muhlis wird nie wieder ein normales Leben haben. Er wird immer Mehmet bleiben.“
Auf der Café-Terrasse ist fast eine Stunde vergangen, ein Tee, ein Kaffee, ein Wasser. Als Ari merkt, dass der Reporter nicht zahlen wird und er an diesem Ostersamstag wirklich kein Geld bekommt, wird er ärgerlich. „Dieses Verhandeln hier ist mir bald zu erbärmlich. Entweder du zahlst jetzt oder du hast Pech gehabt.“ Ari wartet noch kurz ab, die Perlen der Gebetskette wandern wieder durch seine Hand.
Dann springt er auf, nimmt die Zigaretten und sein iPhone vom Tisch, schüttelt kurz die Hand und geht ohne zu bezahlen.
■ Sebastian Kempkens, 24, ist freier Autor in München
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