TUGENDEN, POLITIK UND IHR GERUCH: Theodor-Heuss-Preis
MICHA BRUMLIK
Als hätte es nie einen Niccolò Machiavelli gegeben, klammert sich der öffentliche Diskurs an das Bild des tugendhaften Politikers. So auch in der schrillen Kampagne um die Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an Daniel Cohn-Bendit. Dabei ist in diesem Zusammenhang die wirklich interessante Frage nie gestellt worden: Wer war eigentlich dieser Theodor Heuss, der Namensgeber dieses Preises und der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland? Wer hat die Stiftung gegründet, die seit 1964 den Heuss gewidmeten Preis auslobt?
Da ist vor allem die unvergessene FDP Politikerin Hildegard Hamm-Brücher zu nennen, die als junge Frau vom Widerstandskreis um Sophie Scholl fasziniert war. Aber auch der Chemie-Nobelpreis-Träger Adolf Butenandt, der 1933 zu den Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ gehörte. 1935 hatte er einen Ruf nach Harvard abgelehnt, um am 1. Mai 1936 einer Aufnahmesperre zum Trotz als Mitglied Nummer 3716562 in die NSDAP aufgenommen zu werden.
Und Theodor Heuss? 1884 geboren, verfasste er als feinsinniger, national und großdeutsch gesinnter Liberaler 1932 den Bestseller „Hitlers Weg“, in dem er den faschistischen Demagogen nicht zuletzt seines Antisemitismus wegen aufs Schärfste kritisierte. Indes: Am 24. März 1933 stimmte Heuss trotz großer Bedenken mit den vier „Fraktionskollegen“ der Deutschen Staatspartei im Reichstag Hitlers Ermächtigungsgesetz zu und legalisierte damit die Diktatur.
Gewiss hing die Annahme des Gesetzes nicht von seiner Zustimmung oder Ablehnung ab. Allerdings sahen sich die Abgeordneten durch aufmarschierte SA Leute im Plenarsaal bedroht. Die SPD – ein ewiges Ruhmesblatt – lehnte das Gesetz gleichwohl ab.
Theodor Heuss aber, der die Jahre des Dritten Reichs in der „Inneren Emigration“ verbrachte und später, als Bundespräsident, durchaus bewegende Wort für die von den Nazis ermordeten europäischen Juden fand, wusste schon damals, dass er – wie er später schrieb – dieses „Ja“ nie mehr aus seiner Lebensgeschichte auslöschen könnte. Der Vorsitzende der kleinen Fraktionsgruppe, Reinhold Maier, erster Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, verlas im Reichstag eine in weiten Teilen von Heuss verfasste Erklärung, die so endete: „Im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“
1933, als er zustimmte, war Theodor Heuss 47 Jahre alt; 1947, einen Krieg und Millionen Tote später, war er 63 und sah noch immer keinen Grund, seine Zustimmung ausdrücklich zu bedauern. Und wurde wohl gerade deshalb der ideale Präsident für die junge Republik, deren Wahlbürger sich in ihm wiedererkennen konnten.
Auf der Homepage der Theodor-Heuss-Stiftung liest man als Begründung für die Benennung des Preises: „Der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss (1884–1963) hat durch sein Leben und Werk Maßstäbe für demokratische und liberale Gesinnung und Verantwortung gegeben“ – wobei man ihm offenbar die Zustimmung zur Legalisierung der Hitlerdiktatur nachgesehen hat.
Allen wiederkehrenden Versuchen zum Trotz, die parlamentarische Demokratie als republikanische Tugendgemeinschaft zu verstehen, gilt und galt Machiavellis Einsicht aus dem Jahre 1513 ungebrochen: es werde „einem Fürsten nie an guten Gründen fehlen, um seinen Wortbruch zu beschönigen“. In genau diesem Sinne war der Demokrat und Liberale Theodor Heuss ein „guter Fürst“.
Hannah Arendt, eine durchaus an Tugenden interessierte Republikanerin, sah in der Geburtlichkeit – in der menschlichen Fähigkeit, etwas wirklich Neues zu beginnen – eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Theoretisch versiert, mochte sie indes eine alte römische Weisheit zum Geborenwerden nicht in ihre existenzielle Überlegung aufnehmen: „Inter faeces et urinam nascimur“ – „Wir werden zwischen Kot und Urin geboren“. Anfänge, zumal politische, sind niemals rein, unschuldig schon gar nicht. Gelegentlich macht sich ihr Geruch noch Jahre später bemerkbar.
■ Micha Brumlik ist Publizist und Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main
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