: Ein Hauch Pariser Mai 68 am Gezi-Park
DEMONSTRANTEN Die Besetzer des Istanbuler Parks sind jung, gebildet und fürchten einen repressiven, von der Religion geprägten Staat
GRÜNEN-CHEF CEM ÖZDEMIR
ISTANBUL taz | „Endlich“, sagte eine junge Frau gestern einer Reporterin, „endlich kann ich mich einmal so ausdrücken, wie ich es schon immer wollte.“ Die Frau hat sich gerade erst aus ihrem Schlafsack geschält. Sie übernachtet seit Tagen im Zelt im Gezi-Park, ihren normalen Alltag, erzählt sie weiter, „vermisse ich in keiner Weise“.
Die Frau ist keine Ausnahme. Die Istanbuler Jugend erlebt seit Tagen rund um den polizeifreien Taksim-Platz einen regelrechten Freiheitsrausch. Der größte Teil der mehreren tausend dauerhaften Platzbesetzer dürfte zwischen 18 und 25 Jahren alt sein. Viele leben noch zu Hause. Die allermeisten – es sind erstaunlich viele Frauen unter ihnen – sind Studenten oder haben die Universität besucht. Doch obwohl auch in der Türkei die Jugendarbeitslosigkeit groß ist, ist das im Moment nicht ihr Hauptproblem. Sie haben Angst, in wenigen Jahren in einer repressiven, von der Religion und einem allmächtigen Staatspräsidenten geprägten Republik zu landen, in der sie nichts zu melden haben.
Voller Stolz haben sie sich die von Ministerpräsident Erdogan gegen sie benutzten Schimpfworte „Marodeure“ und „Vandalen“ aufgegriffen und in etlichen Variationen zum Markenzeichen der Bewegung gemacht. Mit den herkömmlichen Parteien, auch den klassischen linken Gruppen, haben die meisten auf dem Platz nichts am Hut. Nach einer Blitzumfrage der Bilgi-Universität unter 3.000 Protestlern lehnen über 80 Prozent alle Parteien ab. Sie wollen eine neue Türkei. Das Schlagwort der Pariser Mai-Revolte 1968, „Fantasie an die Macht“, könnte auch die Parole des Gezi-Parks sein. Der Platz quillt über vor kreativen Aktionen. Plakate, Tänze, Filme, wohin man schaut. In einem ausgebrannten Bus haben einige Leute eine Bibliothek eingerichtet. Es scheint, als habe sich die gesamte unterdrückte Kreativkultur im Gezi-Park eingefunden.
Obwohl der größte Teil der BesetzerInnen zum säkularen Teil der Gesellschaft gehört, gibt es auch Kopftücher in der Menge. Am letzten Freitag veranstalteten sogenannte revolutionäre Muslime ihr Freitagsgebet auf dem Taksim-Platz.
Was selbst die meisten BesetzerInnen wundert, ist, dass alle, auch die unterschiedlichsten Gruppen, friedlich, tolerant und verständnisvoll miteinander umgehen. Der deutsche Grünen-Chef Cem Özdemir, der die BesetzerInnen am Freitag besuchte, war begeistert. „Das ist hier das reinste Demokratielabor“, meinte er, „so wie es ganz zu Beginn der grünen Partei war.“
JÜRGEN GOTTSCHLICH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen