: Schafft Wohlstand Protest?JA
ANTRIEB Die Wirtschaft wächst, und trotzdem wird in der Türkei und in Brasilien protestiert. Oder gerade deshalb? Auch viele der „WutbürgerInnen“ aus Stuttgart gehören zur Mittelschicht
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Michael Sommer, 61, ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds
So paradox es klingt: Ja, wachsender Wohlstand kann in Proteste münden. Natürlich ist es positiv, wenn der Wohlstand wächst. Aber nur, wenn alle etwas davon haben. Wenn die Menschen jeden Tag lesen, dass es im Lande aufwärtsgeht, aber feststellen müssen, dass ihre eigene Lebenssituation sich nicht verbessert oder gar verschlechtert, dann führt dies zwangsläufig zu Unmut. Wachsender Wohlstand für wenige und Stagnation für viele – das hält eine demokratische Gesellschaft auf Dauer nicht aus. Es reicht dann ein kleiner Funken, zum Beispiel die Anhebung der Busticketpreise, um heftige Proteste zu entzünden. Gesellschaftlicher Frieden braucht eine gerechte Verteilung dessen, was gemeinsam erarbeitet wurde. Wohlstand und Gerechtigkeit gehören zusammen, man kann nicht das eine ohne das andere haben.
Franz Walter, 57, ist Politikwissenschaftler und Autor von „Die neue Macht der Bürger“
Jahre tiefer ökonomischer Krisen bildeten historisch nie gute Zeiten für Gesellschaftskritik und soziale Gegenwehr. Denn elementare Daseinssorge entmutigt. Die historischen Siedepunkte gesellschaftlicher Erregung und des Veränderungsdrangs lagen infolgedessen – 1642, 1776, 1789, 1917 und auch aktuell in Brasilien und der Türkei – ganz überwiegend in ökonomischen Aufwärtszyklen. Da wird deutlich, dass es auch anders geht. Erwartung, Hoffnung und Zukunft sind unverzichtbare Voraussetzungen für den zielorientierten Protest. Bittere Not gebärt Resignation, zuweilen auch den überraschend entflammenden, indes regelmäßig jäh und folgenlos wieder abflauenden Tumult. Doch erst aus der ökonomisch gestützten Steigerung gesellschaftlicher Ansprüche speist sich die Kraft und nährt sich die Fantasie zur kollektiven Aktion für eine Neustrukturierung der Machtverhältnisse.
Eugen Maria Schulak, 50, ist Philosoph und schrieb „Vom Systemtrottel zum Wutbürger“
Wohlstand schafft dann Protest, wenn er nicht aus eigener Arbeit herrührt, sondern politisch-banktechnisch geschaffen wurde, wenn Geld, das es gar nicht gibt, mit vollen Händen verteilt wird. Dann nämlich währt dieser Wohlstand nicht lange. Wenn die Begünstigten bemerken, dass ihnen das Selbstverständlich gekürzt und bald überhaupt abhanden kommen wird, folgt Wut auf diejenigen, die einem bislang geholfen haben. Diese Wut ist auch schon vor dem sozialen Abstieg vorhanden, weil nicht glücklich machen kann, was nicht eigenem Schaffen entspringt. Außerdem: Was ist Wohlstand? Antike Philosophen, wie etwa Epikur, konnten diese Frage noch beantworten, mit Überlegungen zum menschlichen Maß. Da uns dieses vorübergehend verloren gegangen scheint, orientieren wir uns nach dem Einkommen von Medienstars – und dann nimmt sich unser Wohlstand doppelt erbärmlich aus. All das gilt auch für Eltern, die ihre Kinder allzu sehr verwöhnen.
Morgana Nunes, 24, ist Architekturstudentin und protestiert in São Paulo
Ein gewisser Wohlstand ist zumindest die Voraussetzung für Protest. Es ist kein Zufall, dass es vor allem Leute aus der Mittelschicht sind, die hier in Brasilien demonstrieren. Denn nur die sind auf Facebook unterwegs und haben Zugang zu den entsprechenden Informationen. Die Oberschicht zwar auch, aber die hat kein Interesse an Veränderung. Die Armen müssen erst einmal schauen, wie sie über die Runden kommen. Sie arbeiten den ganzen Tag und wohnen oft weit draußen. Wenn sie schon allein zwei Stunden von der Arbeit nach Hause brauchen, bleibt keine Zeit für Demonstrationen.
NEIN
Claudia Roth, 58, ist Vorsitzende der Grünen und besuchte Protestierende in Istanbul
Mehr Wohlstand heißt in der Regel mehr Zufriedenheit und nicht mehr Protest – wenn er fair verteilt ist, wenn Freiheitsrechte garantiert sind und niemand zurückgelassen wird. Gerechtigkeitsdefizite sind die große Triebkraft für Protest. Wenn vom Wohlstand immer nur die Gleichen profitieren und andere dagegen außen vor bleiben, ist es gut, wenn sich Menschen erheben und ihren Anteil am Wohlstand einfordern. Doch Gerechtigkeitsdefizite gibt es auch bei der Chancenverteilung, wenn Geschlecht oder Herkunft über Aufstieg entscheidet, wenn Bildung vom Geldbeutel der Eltern abhängt oder wenn Politik und Gerichte unfair entscheiden. Demokratiedefizite schaffen Protest: das Gefühl ausgeschlossen zu sein, nicht gehört zu werden, an der demokratischen Willensbildung nicht teilzuhaben. Dass in Istanbul und Sao Pãolo auch gut ausgebildete Menschen auf die Straße gehen, ist kein „Wohlstandsübermut“, sondern notwendiges Engagement.
Dieter Rucht, 67, ist Experte für Protest- und Bewegungsforschung
Erst in Verbindung mit anderen Faktoren kann Wohlstand zu Protest führen. Wenn die materielle Lage der Menschen durch Eingriffe anderer verschlechtert wird, wenn ererbter oder als „verdient“ angesehener Reichtum geschmälert werden soll. Vom Wohlstand ausgeschlossene Gruppen protestieren, wenn sie diese Situation als ungerecht empfinden. Die materielle Situation beeinflusst Träger wie Themen des Protests: Obdachlose kämpfen nicht gegen die Abschaffung eines staatlichen Kammerorchesters. Weight Watchers beteiligt sich nicht an Hungeraufständen. Wohlstand kann mit hoher Zeitsouveränität, aber auch mit dem Gefühl von Verantwortung und Schuld verbunden sein und in seltenen Fällen den advokatorischen Protest zugunsten Benachteiligter fördern – wie die Initiative „Vermögende für eine Vermögensabgabe“.
Kathrin Hartmann, 41, schrieb „Die neue Armut in der Konsumgesellschaft“
Der „Wutbürger“ ist ein wohlhabender Mensch, der nur renitent wird, wenn sein Privatwohl bedroht ist. Das Wort gefällt den Mächtigen sehr gut. Damit gelang es ihnen, den Protest gegen den Milliardenwahnsinn Stuttgart 21 als Querulanz der Besserverdienenden lächerlich zu machen. Auch die Demonstranten in der Türkei und in Brasilien bekamen schnell den Stempel „Wutbürger“ aufgedrückt, seien sie doch gebildete Mittelständler. Klingt, als wäre ihr Protest gegen die herrschenden Verhältnisse Luxus. Aber es ist ja nicht ihr vermeintlicher Reichtum, der sie auf die Straße treibt. Sondern der Zorn darüber, dass das Versprechen von Wohlstand durch Wachstum nur für die Eliten in Erfüllung geht – auf Kosten des Gemeinwesens. Wer das Wohlstandsprotest nennt, macht sich nicht zum Komplizen der Armen, sondern der Mächtigen.
Senem Gökce Ogultekin, 30, ist Tänzerin in Berlin und stammt aus Istanbul
Nicht der Wohlstand schafft den Protest, sondern wie er verteilt wird: nämlich ungerecht. In der Türkei gab es einen finanziellen Boom, der wenige Menschen reicher, die Mehrheit aber ärmer machte. In den Statistiken von 2011 über die soziale Gerechtigkeit in den OECD-Ländern liegt die Türkei auf dem letzten Platz, obwohl sich das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 2001 und 2011 vervierfacht hat. Man kann sich vom Schein des finanziellen Wachstums in der Türkei leicht täuschen lassen. Meine Verwandten haben iPhones, teure Autos und Flat-Screen-Fernseher, aber die ökonomische Kapazität basiert nur auf Kreditkarten und Schulden.
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