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Durchgetanzt

TRADITION Ein erstaunlicher Anachronismus wird 100: Clärchens Ballhaus in der Auguststraße ist eine Insel, auf der andere Regeln gelten – und eine Ersatzfamilie für Tanzwütige aller Alters- und sonstigen Klassen

VON SUSANNE MESSMER FOTOS VON AMÉLIE LOSIER

Wenn man Wolfram K. auf der Tanzfläche beobachtet, muss man sofort an Fred Astaire denken. So leicht, behend, ja schwerelos fliegt der dünne Mann mit dem weinroten Jacket und dem rubinroten Siegelring übers Parkett, als wäre er höchstens 50, nicht aber schon 83 Jahre alt.

Als hätte er nicht seinen zweiten Infarkt hinter sich, den zweiten Bypass und den sechsten Stent. „Vor zwei Jahren hatte ich sogar einen Schlaganfall, war erst im Rollstuhl, dann im Rollator. Alles, was ich den Ärzten gesagt habe, war, dass ich bald wieder tanzen will“, sagt Wolfram später im Garten, wo die bunten Lichterketten sanft in den hohen Linden schaukeln. Hier, meint Wolfram, kann man sich besser unterhalten. Das ist seine erste Charmeoffensive.

Stammgast seit 40 Jahren

Schon der Weg in den Garten, dicht auf Wolframs Fersen: Eine Art Schnellerkundung dessen, was das Besondere ist an Clärchens Ballhaus, an diesem magischen Ort, der in der kommenden Woche hundert Jahre alt wird. Wolfram ist gegen neun Uhr gekommen, am Arm von Klaus Schliebs, der, wie immer im dunklen Anzug mit Fliege, bereits in den Achtzigern Oberkellner und Barkeeper bei Clärchen war, eine kurze Pause einlegte und seit 2005 zurück ist, aber diesmal als Türsteher und Platzanweiser, der jeden Stammgast beim Vornamen kennt. Stammgast Wolfram tanzt in Clärchens Ballhaus seit 40 Jahren.

Seit acht Jahren kommt er jeden Freitag und Samstag zum „Schwoof“, und doch begleitet ihn Klaus Schliebs bis zum Tisch. Es ist der Tisch, an dem bis vor kurzem auch der berühmte Paul Großstück saß, ein Mann, der nun 89 geworden ist und nicht mehr tanzen kann – und den hier alle vermissen. Und obwohl sein Freund Wolfram längst jeden der Kellner persönlich begrüßt hat, wird er jetzt, auf dem Weg in den Garten, noch ein zweites Mal überschwänglich umarmt, geherzt und geküsst.

Seit acht Jahren tanzt Wolfram regelmäßig bei Clärchen, sagt er noch einmal, als wir unter den Linden sitzen, und acht Jahre sind es auch her, dass seine Frau verstorben ist. „48 Jahre Ehe, das vergisst man nicht so leicht“, sagt er. „Ich gehe alleine tanzen und gehe auch allein nach Hause“, fügt er mit einem Lächeln an.

Aber Rumknutschen, hier im Garten: das hat er dann doch schon einmal erlebt, sagt Wolfram und zieht seinen linken Mundwinkel ein winziges Stück nach oben. Zweite Charmeoffensive. Clärchens Ballhaus ist eben für viele hier nicht nur eine Ersatzfamilie, weiß er, sondern auch eine Art Insel, auf der die gesellschaftlichen Regeln, die einen sonst so beschäftigen, außer Kraft gesetzt sind. Hier darf jeder nach seiner Fasson. Hier trifft sich Jung und Alt, Fernfahrer und Arzt, Hipster mit Frustrationshintergrund und Taxifahrer mit Migrationshintergrund. Und hier kommt nicht nur auf seine Kosten, wer gerne tanzt, sondern auch, wer gerne flirtet.

Oder wer sich gern ganze Lebensgeschichten aus anderen Welten anhört.

Clärchens Ballhaus ist wie ein Geschenk in einer Stadt, die sich zunehmend entmischt, noch dazu in der Auguststraße in Mitte, einem Stadtteil, in dem sich bald nur noch reiche Werber und Webdesigner ihre ausgebauten Dachgeschosse leisten können.

Als Wolfram redegewandt und voller Humor einen Teil der Geschichten angerissen hat, die sein langes Leben bestimmten – vom Krieg erzählt hat, in den er kurz vor Schluss noch ziehen musste, von der Ankunft in Berlin aus Kattowitz in Oberschlesien, von der Ausbildung zum Maschinenschlosser, dem gescheiterten Fluchtversuch und dem Gefängnis in der DDR, von den Affären und Beziehungen, von den beiden Kuckuckskindern und der letzten großen Liebe –, da ist plötzlich eine ganze Stunde um. Auf einmal hat er keine Geduld mehr, er scharrt mit den Füßen, zeigt noch schnell ein altes Bild aus den Fünfzigern, auf dem er aussieht wie eine Mischung aus Horst Buchholz und Gregory Peck, und schon ist er auf und davon. Er will noch „durchziehen“, hat er ein paar Mal gesagt, wie immer, bis um vier oder fünf.

’ne Pause vom Berghain

Ein lauer Spätsommertag ist heute, wenige Regentropfen fallen, aber richtig kalt wird es noch nicht. Am Nebentisch sitzt ein Mann Ende zwanzig mit Hornbrille, auf seinem Beutel steht „Coco – What?“. Er schaut eine Weile auf das Display seines großen Handys. Dann sagt er: „Ich muss mal ’ne Pause machen von Berghain und Ritter Butzke und so.“ Er seufzt. Das klingt halb exaltiert, halb ehrlich erleichtert.

Weiter hinten unterhalten sich zwei junge Frauen in Jeans und Kapuzenpulli. Die blondere der beiden erzählt gerade von ihrem Schauspielstudium und einem Regisseur, der sie dazu anhielt, mehr zu lesen. „Ich war schon immer ein Fan von Philosophie“, sagt sie.

23 Uhr ist es geworden im Ballhaus, am Eingang eine fröhliche Wand aus Bier- und Schweißgeruch. Das Oberhemd eines Mannes in den Sechzigern klebt an seinem Rücken, eine Dame in den Siebzigern mit eleganter Stola wischt sich die Stirn am Tischtuch ab. Die Menschen an den Tischen vor der holzvertäfelten Wand schauen gebannt den Tanzenden zu. Die wagenradgroßen Pizzen, die hier zum Aufwärmen bestellt werden, sind inzwischen meist verzehrt. Statt dessen stehen viele leere Biergläser auf den Tischen. Nach wie vor wuseln unzählige Kellner in Schwarz und Weiß herum – alte Schule.

Die Tanzfläche ist voll wie eine Büchse Fisch. Der Ingenieur aus Mecklenburg mit den schwarzen Hosenträgern, der weißen Leinenhose und dem weißen Bürstenschnitt, der von Anfang an tanzte, ist immer noch dabei, Arm in Arm mit wechselnden Damen. Auch Neue sind hinzugekommen: ein Paar in den Vierzigern zum Beispiel, sie im kleinen Schwarzen, er im Joy-Division-T-Shirt. Sie tanzen Walzer, formvollendet. Das Lametta an den Wänden glitzert, die Diskokugel auch.

Der DJ, der eben noch Chuck Berry und Chubby Checker spielte, ist inzwischen in den Sechzigern angekommen, es laufen unsterbliche Songs wie „Proud Mary“ von Ike & Tina Turner, die einfach zu kraftvoll sind, als dass man je genug von ihnen bekommen könnte. Einige tanzen einfach vor sich hin, wedeln mit den Armen, wackeln mit dem Po. Andere tanzen zu zweit, ein paar auch eng umschlungen.

Wolframs derzeitige Tanzpartnerin ist nicht mal halb so alt wie er, aber sie muss sich anstrengen, Schritt zu halten. Sein gleitender Tanz erinnert stark an einen Stil, wie er seit Jahrzehnten in England gepflegt wird, auf den Northern-Soul-Partys. Die britische Band Moloko hat das mal in einem sehr eindrücklichen Video demonstriert.

Ein paar Tische weiter sitzt eine schlanke, große Dame mit weißen Spitzenstulpen an den filigranen Handgelenken, roter Stoffnelke im Knopfloch, knallrotem Bubikopf und ebenso roten Lippen. Die sechzigjährige Bri K. reagiert ebenso locker wie Wolfram auf die Frage nach ein paar ruhigen Minuten im Garten. Sie kennt das Ballhaus seit dem Jahr 2007, erzählt sie unter den Linden, wo sie sich sofort den besten Platz gesucht hat. Damals war sie mit einer alten Dame hier, die an Alzheimer erkrankt war, denn seit Bri nach Berlin gekommen ist, arbeitet sie als „Kulturbegleiterin“ von Demenzkranken.

Die alte Frau hatte bereits ihr Sprachzentrum verloren und konnte kaum mehr kommunizieren, erzählt Bri, aber in ihrem ersten Leben hatte sie viel getanzt. Die Dame, übrigens stets im Schleierhut, musste Clärchens Ballhaus nur betreten, schon war sie ein anderer Mensch. „Es war wie ein Nachhausekommen“, sagt Bri. „Wir waren immer die Ersten auf der Tanzfläche, und ich merkte erst, dass sie nach Hause wollte, wenn sie aufhörte sich zu bewegen.“ Bri hatte sich in diesen Ort verliebt.

Seit dieser Zeit kommt Bri auch zum Freizeitvergnügen ins Ballhaus, nicht nur für die Arbeit. Sie, die aus Norddeutschland stammt, ist immer in Berlin gestrandet, wenn eine Liebe zu Ende ging, erzählt sie. Das erste Mal in den Achtzigern, als in Kreuzberg noch die Häuser besetzt wurden. Das zweite Mal dann vor zehn Jahren.

Wie eine Dorfgemeinschaft

Für Bri scheint Clärchens Ballhaus eine Freiheit zu bedeuten, die Berlin immer weniger verspricht. Eine Freiheit, wie sie sie hier vielleicht zuletzt in den Achtzigern erlebte. Und natürlich: im Dorfgemeinschaftshaus auf dem Land, in ihrer Jugend. „Damals kam es auch nicht darauf an, ob man Hauptschüler war oder Gymnasiast“, sagt sie, „es kam nur darauf an, ob man tanzen konnte.“ Ein Dorfgemeinschaftshaus ist ein toller Vergleich für Clärchens Ballhaus, diesen Ort, wo das Licht eigentlich zu hell und die Musik zu leise ist, als dass er als cool durchgehen könnte. Aber um Coolness geht es hier ja auch nicht.

Es ist fast Mitternacht. Klaus Schliebs, der Mann mit Fliege an der Tür, kann nur noch so viele Gäste reinlassen wie gleichzeitig rausgehen. DJ Charly legt jetzt Evergreens aus den Achtzigern auf, Queen zum Beispiel, auch Michael Jackson. Bri tanzt unverdrossen einen Fox, zusammen mit dem Ingenieur aus Mecklenburg. Wolfram macht ausnahmsweise Pause am Tisch. Zwei Jungs in Karohemden, Marke Maschinenbaustudent, stehen mit einer Flasche Brause am Rand, wippen mit den Fußspitzen und lächeln schüchtern, aber selig.

Eine junge Frau mit rotem Minikleid und braunen, kniehohen Wildlederstiefeln lässt sich geduldig von einem Jeansträger hin- und herschieben. Ein Mann stellt sich ironisch lächelnd als „Hans“ aus Kreuzberg vor – und meckert über die Damen heutzutage, die sich gar nicht mehr schick anziehen. „In Stiefeln kann man doch nicht tanzen“, mault er. Hans, der unverkennbar in den Sechzigern aus der Türkei kam, war schon in den Siebzigern öfter hier. Er legt den Kopf lang zurück und muss laut lachen, als er die Geschichte vom Taxifahrer hört.

Der Taxifahrer hatte auf dem Weg ins Ballhaus über seine Abende dort erzählt, als er noch jung war. Und er hatte sich über die Türken beschwert, die in den achtziger Jahren ihnen, den armen Jungs aus Ostberlin, in Clärchens Ballhaus die schönsten Mädchen wegschnappten. Auch zu DDR-Zeiten galten im Ballhaus andere Regeln als anderswo: Es war ein Fluchtpunkt für all jene, die die Restriktionen des sozialistischen Alltags einen Abend lang aus dem Kopf kriegen wollten. Ein Ort auch, an dem man schon damals mit Prüderie nicht weit kam.

Die Regentropfen sind weitergezogen, im Gartenlokal vor dem freigebombten Hinterhaus mit der charmant bröckelnden Fassade, wo wacklige Klappstühle und Tische stehen, hört man nun viel Italienisch, Spanisch und Griechisch in der Warteschlange. Fünf dänische oder holländische Blondinen haben sich pinke Bunnyohren auf den Kopf gesetzt. Sie sind schließlich nur ein einziges Wochenende in Berlin.

Aber da: Ein Tusch, schnell wieder rein. Die Live-Kapelle spielt, auf die Wolfram sich jeden Freitag und Samstag in Clärchens Ballhaus ganz besonders freut. Heute spielt eine Rockabilly-Band. Die vier Musiker an Kontrabass, Gitarre, Schlagzeug und Saxofon tragen authentische Tollen. Die Sängerin ist in Satin und Strass gekleidet und hat sich das Haar zur Banane gesteckt. Sie legt den Kopf schief.

Wolfram ist völlig aus dem Häuschen. Er steht ganz vorn, schnippt mit den Fingern und kreist mit den Hüften.

„Na?“, ruft er schließlich laut an gegen die schöne Musik, die nie alt werden wird. „Wie sieht es aus? Nächste Woche wieder hier?“

Es ist schon seine dritte Charmeoffensive.

■ Clärchens Ballhaus, Auguststr. 24, tägl. ab 11 Uhr – open end

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