piwik no script img

Das ausgelagerte Archiv

Die Website youtube.com präsentiert hunderttausende von kleinen Videos. Fernsehsendungen, Musikclips, Unfug jeder Art: ein einmaliges Portal in die Weiten der popkulturellen Erinnerung

VON DETLEF KUHLBRODT

Es muss irgendwann vor den Filmfestspielen gewesen sein, als ich youtube.com entdeckte. Das ist eine amerikanische Website, auf der mittlerweile ungefähr 25 Millionen Videos herumliegen. Selten sind sie länger als fünf Minuten. Jeden Tag kommen 20.000 hinzu. Im Juli letzten Jahres startete die Seite. Youtube funktioniert zunächst einmal so ähnlich wie die diversen halblegalen Internettauschbörsen – das heißt, man gibt einen Namen oder Begriff ein und bekommt Ergebnisse. Im Unterschied zu den üblichen Tauschbörsen lädt man sich die Sachen, die es dort gibt, aber nicht herunter, sondern guckt sie im Netz.

Eigentlich ist die Seite so etwas wie das ausgelagerte kollektive Archiv einer vor allem popkulturellen Erinnerung. Mit ihr hat man unter anderem die Möglichkeit, das, was einen als Kind und Jugendlichen geprägt hat, noch einmal zu sehen. Das klingt vielleicht banal, ist es aber nicht. Denn bis vor wenigen Jahren waren die Bilder von früher ja verschlossen. Sie waren da, aber man kam nicht an sie heran. Manchmal wünschte man sich vielleicht, irgendetwas noch einmal zu sehen – dieses Interview mit Leonard Cohen zum Beispiel, dass man damals so toll gefunden hatte –: aber das ging nicht. Hatte keiner. Gab’s nicht. Bei Musik ist das seit Napster ja einfacher. Nur ohne Bild. Doch das gibt es nun bei youtube. Und nicht nur professionelle Filmchen, sondern auch Millionen von selbstgedrehten Videos, die Leute dahin gestellt haben.

Youtube sieht eher unspektakulär aus: Grau, Blau, ein paar Bilder zum Anklicken, eine Leiste mit irgendwas und eine Suchfunktion. Ich tippte „Marc Bolan“ ein. Es gab 34 Resultate. Jeweils drei Bilder nebeneinander und darunter eine kurze Inhaltsangabe. T. Rex, wie sie ihre Hits Anfang der Siebziger in „Top of the Pops“ oder im Bremer „Musikladen“ aufführen.

Ich guckte „20th Century Boy“ und versank in komischen Déjà-vus. Ich hatte das Video zuletzt vor mehr als dreißig Jahren gesehen. Ein einziges Mal. Damals hatte in diesem Video ein wunderbares Versprechen auf eine geheimnisvolle, schöne Zukunft gelegen, der ich mittlerweile schon entwachsen bin. Jetzt guckte ich es noch mal. Ganz seltsam. Wie Marc Bolan so aussieht und was er anhat und die anderen ja auch. Dies postpsychedelische, prä-punkige Video sah kulissenhafter aus, als ich es in Erinnerung hatte. Das Bild war etwas undeutlicher und kleiner als damals im Fernseher. Vor allem hinkten die Bilder den Tönen hinterher und manchmal hinkten auch die Töne ein bisschen. Die Tonspur war jedenfalls schon fertig, als man die Band immer noch spielen sah. Während das Licht im echten Leben viel schneller ist als der Ton, ist es im Computer andersrum. Als Marc Bolan den Mund für seinen berühmten „Wow“-Schrei öffnete, war der schon längst verklungen.

Diese technische Unzulänglichkeit hatte aber einen ihr entsprechenden melancholischen Mehrwert, erzeugte ein ähnliches Gefühl zwischen Intimität und Vergeblichkeit, wie es alte Super-8-Filme, verblichene oder verschmutzte Bilder tun. Es geht darum, nicht die Melancholie zu genießen, sondern sie zu verstehen. Die Verschmutzung, das Undeutliche verweisen auf die vergehende Zeit, die die perfekte Reproduktion zu negieren versucht, die nichts anderes wäre als ein eingefrorener Klon des Augenblicks. So ist es denn auch viel humaner, wenn die angestrebte Echtzeitübertragung eben noch nicht ganz funktioniert.

Andererseits nervt es.

Nicht die Qualität der Bilder – für meine Erinnerungszwecke, mein geschichtliches Interesse reichte das völlig, aber das Warten nervt. Bis das alles richtig geladen ist. Irgendwie macht einen das immer so nervös, wenn man wartet, während der Computer rechnet, damit man sich das angucken kann, und das Irre dabei: Die Rechengeräusche meines Computers sind ja nicht mal echt, sondern wurden von irgendwelchen Schlauköpfen da reingebaut, wie mir kürzlich jemand erzählte: Sie sollen der Aktivität der Maschine eine akustische Repräsentation geben.

Suchend geht man seiner Wege. Geschichtlich interessiert. Begleitet von einem Gefühl seltsamer Gleich- und Ungleichzeitigkeiten. Viele Freunde hatten ja in letzter Zeit damit angefangen, über Früher nachzudenken. Edi, den ich Anfang der Achtziger den „Chemiker“ nannte, als er in einer Band spielte, hatte zum Beispiel vor einigen Monaten damit angefangen, in einer Kneipe Popmusikvideos aus den letzten 40 Jahren zu zeigen. Das waren eigentlich Geschichtsstunden. Und ich guckte mir meine alten Helden zu Haus in meinem Computer an. Leonard Cohen, David Bowie, Marc Almond. Tausend Filmchen, die ich als Teenager so gerne gesehen hätte. David Bowie, wie er 1968 „When I’m five“ singt – Wahnsinn!

Einmal machte ich auch einen drogenorientierten Videoabend; guckte mir also noch einmal die Beatlesfilmchen aus ihrer psychedelischen Phase an („Strawberry fields forever“ etc.) und Sly Stone, wie er da so völlig dicht in der Dick Cavett Show zu sein scheint, irgendwann Anfang der Siebzigerjahre. Als eher prinzipieller denn konkreter Ex-Grateful-Dead-Fan kontrollierte ich einen diesbezüglichen Bericht von 1967. Die Grateful Deads (die passenderweise über ihren Texter John Perry Barlow an der Gründung der Electronic Frontier Foundation beteiligt waren, einer Organisation, die für die Bürgerrechte im Netz kämpft) erzählten in diesem popmusikgeschichtlich interessanten Bericht davon, wie durch LSD also eine neue Sensibilität entstände, die die Menschheit nach vorne brächte und den Einzelnen irgendwie befreie.

Ein Kommentator im Anzug kritisierte das sehr bestimmt, aber geistesgeschichtlich viel gebildeter, als es die heutigen Kommentatoren zu tun pflegen, und ich dachte dann, dass es in der taz ursprünglich ja auch einen Redakteur für Drogen gegeben hatte. Irgendwo fand ich ein Interview mit Jerry Garcia und Ken Kesey. Sie unterhielten sich in irgendeiner großen amerikanischen TV-Show. Kichernd und leicht schenkelklopferisch sprachen sie über diese teils vom Militär, teils von neugierigen Psychologen veranstalteten Acid-Tests. Komisch, wie selbstverständlich dieser Drogendiskurs einmal war! Zumindest in den USA.

Dann gab’s noch eine sehr psychedelische Pink-Panther-Folge von 1968 und vor dem Zubettgehen noch schnell ein zeitgenössisches 6-Sekunden-Amateur-Video mit einer jungen Frau. Sie wirkte leicht weggeschossen und sagte: „I’m now tripping.“

Oder „not“? Egal!

Man kann sich natürlich auch tausend andere Themenabende gestalten. Mit tollen Kunststücken, die in irgendwelchen Fernsehshows anderer Länder gezeigt wurden: einer phänomenalen japanischen Pingpong-Performance, einem großartigen japanischen Jojo-Künstler usw. Oder auch mit buddhistischen Dingen: einem Reisereklamevideo für den Giant Buddha of Kamakura (Japan), zu dem die „Who“ ihr „See me – feel me“ singen, oder einem „I am not Buddha“ betitelten mehrteiligen Fernsehbericht aus Indien über einen 15-Jährigen, der seit einem halben Jahr ohne etwas zu essen oder zu trinken an einem Bodhibaum sitzt und von einigen als Buddha verehrt wird. Das Video heißt „I am not Buddha“, man versteht überhaupt nichts. Genau deshalb gefällt es einem vermutlich so sehr.

So vergingen die Tage und es kommen immer mehr. Das Motto von youtube ist „broadcast yourself“. Viel zahlreicher als die professionellen Videos sind denn auch die kleinen Filmchen, die irgendwelche Leute selbst gemacht haben.

Vor allem, so kommt es mir vor, sind es Karaoke-Videos. Leute, meist junge Frauen, tanzen zu irgendeiner Pop-Musik. Oder „oops-Videos“ , also solche, wo Leute lustig umfallen. Menschen singen mit ihrer Gitarre. Oder auch: „This is my friend Gan’s video. Gan is a student of Tongji University in Shanghai, China. He is one of the best cubers in China. Now, enjoy the video.“ (Er ist wirklich gut und braucht 27 Sekunden.) Manchmal gibt es Geister, die man nicht richtig erkennt, man hört nur den Schreckensschrei dessen, dem der Geist begegnete. Oft sind Leute gerade sehr albern und lachen viel. Manchmal kotzt jemand. Eine Frau macht sich in die Windeln beim Telefonieren.

Es gibt viele Haustiere. Eine junge Japanerin gibt ihrer Katze die Brust in einer völlig durchgedrehten japanischen Fernsehshow. Ein Hund trinkt Cola aus dem Nabel eines fetten Mannes. Unter „Snow“ kann man sich den Schneefall in tausend Weltgegenden anschauen. In Seoul schneit es in den Straßen. Aus irgendwelchen Gründen wurde dies Video 24.750-mal in zwei Tagen angeguckt.

Man kann auch „Sun“ reintippen oder verschiedene Weltgegenden. Man fliegt in acht Folgen mit einem Drachen über Helsinki, fährt sechs Minuten im Taxi durch Paris, guckt sich die U-Bahn in Moskau an. Teenager skaten. Jemand duscht angezogen 10 Minuten lang. Es gibt Fußballtore oder Bilder von der Loveparade in Chile. Jungs oder Mädchen schlagen sich. Muslimische Demonstrationen in diversen Städten sind vertreten. Ein „Hassprediger“ vielleicht (man versteht ja nicht, was er sagt), der heilige Geist hat ihn ergriffen, und er rappt spirituell weggeschossen, aber durchaus rhythmisch. Ich sah Kitzelfolter für Erwachsene, Vergewaltiger, die im tschetschenischen Grosny erschossen wurden, Kriegsbilder aus dem Irak. Brandbomben in Nordirland.

Man schaut in unendlich viele andere Leben.

Es ist sicher die Verwirklichung eines emanzipatorischen Medientraums. Die Sender sind Empfänger, die Empfänger sind Sender, auch wenn es nur die 26ste Folge ihres „daily shaves“ ist, die sie ins Netz stellen. Sie setzen eindeutige Zeichen: hey, das bin ich, und nehmen die Posen derer ein, die sie darstellen wollen. Im Abbild ihrer selbst versuchen sie sich zu verwirklichen. Sie üben vielleicht für die nächste Lesebühnenlesung, wie der Berliner Performer Toni Mahoni, der wirklich lustig ist. Viele haben auch ihre je eigenen Liebesgeschichten über Jahre, mit diversen Highlights, romantisch vervideoclipisiert. Manche Clips dauern nur so lange, wie jemand sagen kann: „Vagina“, oder oft auch: „Are you taping this?“

Die Videos sind zum einen Videos. Und zum anderen sind die, die sie hineingestellt haben, ja auch präsent. Man klickt meinetwegen auf ein Video, unter dem steht, dass es vor einer Sekunde hier reingestellt wurde, von irgendjemandem mit irgendeinem mehr oder weniger vielsagendem Nickname. Das Video heißt meinetwegen „me“ (unter dem Titel gibt es 115.557 Videos) Dann sieht man dreißig Sekunden lang jemand, der zumeist recht belanglose, alberne, performative Dinge sagt.

Man kann sich total an diese Dinge verlieren. Schnell wird man süchtig.

Unter dem Stichwort „bored“ gab es gestern Mittag 14.482 Videos.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen