: „Was übrig bleibt“
THEATER In Bielefeld stellt das Festival „Voices of Change“ neue Dramatik aus New York vor
■ Die Dramaturgin: geb. in Stuttgart, studierte Rhetorik und Kulturwissenschaft. Seit 2002 Dramaturgin in Dresden, Bielefeld und Bremen, Lehrbeauftragte für Dramaturgie in Bremen.
■ Das Festival: „Voices of Change“ mit neuer Dramatik aus den USA, 22.–25. April in Bielefeld und Moers, eine Auswahl davon am 29. und 30. April in Berlin in der Landesvertretung NRW Foto: Archiv
INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER
taz: Frau Christine Richter-Nilsson, Sie sind Dramaturgin und Übersetzerin. Für das Festival „Voices of Change“ in Bielefeld haben Sie 13 Stücke junger amerikanischer Autoren ausgesucht. Nun gibt es in den USA kein System von Stadttheatern, die Autoren Stückaufträge geben. Für wen schreiben die Autoren? Christine Richter-Nilsson: Es gibt zwar keine Stadttheater, aber es gibt viele kleine Off-Off-Theater, die Stückaufträge vergeben. Das ist eben das Besondere an New York, dass es eine unglaublich große Off-Off-Broadway-Szene gibt. Aus allen amerikanischen Bundesstaaten ziehen Nachwuchsautoren und Dramatiker nach New York, weil sie dort eine besondere Infrastruktur finden. Viele kleine Theater, die 99 Plätze oder weniger haben. So wird Off-Off-Broadway definiert, aber Off-Off ist auch eine ästhetische Definition: Die New Yorker verstehen sich nicht mehr als „Melting Pot“, sondern als „Salad Bowl“, in der alle Kulturen eigenständig nebeneinander existieren. Haben Sie alle Stücke dort inszeniert sehen können?
Nein, nur eines, die Uraufführung von „The Bereaved“. Drei sind auch in den USA noch nicht aufgeführt, an zwei Texten arbeiten die Autoren auch noch. Zum Beispiel Branden Jacobs-Jenkins gibt mir morgen den zweiten Akt seines Stücks „The Change“, den ersten übersetzen wir gerade. In Bielefeld zeigen wir alle Stücke dann zum ersten Mal in Deutschland und in deutscher Sprache, eingerichtet von Nachwuchsregisseuren. Beim Lesen fiel mir auf, dass sich trotz unterschiedlicher Geschichten manche Motive wiederholen. Zum Beispiel die Situation: keine Lebensversicherung, keine Krankenversicherung, kein Job, drohender Wohnungsverlust, Schulden; dafür auf der anderen Seite jede Menge Drogen und jede Menge Fernsehen. Ja, mindestens vier Stücke spielen in Fernsehstudios, allein zwei Autoren aus der Reihe „The Great Recession“, die das New Yorker Flea Theater anlässlich der Finanzkrise mit Kurzstücken beauftragt hat, erzählen vom Menschen im medialen Zeitalter, der keine Privatheit mehr hat, immer unter dem Druck der Beobachtung steht. Das ist ein starkes Bild für eine Situation des Ausgeliefertseins. Jason Grote siedelt seine Figuren in „Zivilisation (All you can eat)“ in einer prekären Künstlerszene an, die privat über Politik, Rassismus und Obama diskutiert und sich engagieren will und dann zum Geldverdienen auf zynische Werbejobs für das Fernsehen angewiesen ist. Auch in „Righteous Money/Gerechtes Geld“ von Michael Yates Crowley ist der Fernsehmoderator derjenige, der mitten in der Finanzkrise weiterhin die Gier propagiert: „Wir können nicht immer mehr Geld machen“, sagt er, „aber wir können es jemandem wegnehmen.“ Die Medien als der Hort der Bösen? Eher die teuflische Finanzwelt. Bei Michael Yates Crowley gibt es tatsächlich diese extreme Teilung des Lebens in die Kunst und den Ort, wo man sein Geld verdient. Er arbeitet am Times Square im Finanzwesen. Und in seiner Freizeit schreibt er seine Stücke und performt sie selbst mit wenigen Mitteln. Fast alle Autoren arbeiten so: tagsüber Geldverdienen, abends und an den Wochenenden Theater machen. Ein anderes wiederkehrendes Motiv ist die Ernährung. Hysterisch wachen da einige Figuren bei Jason Grote und Anne Washburn darüber, nichts ökologisch Falsches auf den Teller zu bekommen. In „Zivilisation (All you can eat)“ wird das ins Absurde getrieben. Die alternative Ernährung hat in den USA schon einen anderen Stellenwert, früher wurde man gleich als Hippie abgestempelt, wenn man in den Bioladen ging. Heute gehört gesunde Ernährung eher zum guten Ton der Mittelschicht, deren Verhalten von vielen Autoren hinterfragt wird. Bio ist eben auch teurer, und nicht jeder kann sich diese Form der Political Correctness in den USA leisten. Carol sagt in Grotes Stück „Zivilisation“: „Ich habe nicht alles richtig gemacht, aber ich habe viel weniger falsch gemacht als eine Menge anderer Leute.“ Und trotzdem droht ihr, ihr Haus zu verlieren, der Job ist schon weg, die Tochter verlässt sie. Wie schlägt sich das Krisenbewusstsein ästhetisch nieder? Die Stücke bewegen sich zunehmend hin zu neuen, fragmentarischeren und nichtlinearen Erzählstrukturen, die den Zerfall von alten Sicherheiten und eben die Dekonstruktion von vielen Klischees über Amerika widerspiegeln. Dass der Amerikanische Traum bröckelt, ist aber doch keine neue Erzählung? Auffällig ist, dass bestimmte Gruppen und Minderheiten, wie die Afroamerikaner und Asienamerikaner, einen schärferen Blick auf die Krise und vielleicht auch mit Obamas Wahl ein anderes Selbstverständnis entwickelt haben. Sie üben die härteste Kritik an der Mittelklasse überhaupt, die die Krise des Amerikanischen Traums am stärksten zu spüren bekommt. Damit verbunden scheint mir auch eine Krise des Afroamerikanischen Traums, der sich sehr an der weißen Middle Class orientiert hat, repräsentiert von Eigenheim und Familie, Bildung und Karriere und auch einer bürgerlichen Definition von Hochkultur. Die jungen Autoren fragen jetzt: Wie steht es um die politische Korrektheit, wenn die privilegierte, relativ abgesicherte Middle Class angesichts von Finanz- und Karrierekrisen plötzlich mit dem Rücken zur Wand steht? Das beschäftigt den Afroamerikaner Thomas Bradshaw besonders in seinem Stück „Was übrig bleibt“. Aber in dem Stück gibt es keine schwarze Figur, die der Mittelschicht angehört. Stimmt, aber es gibt den Dealer Jamal. Er spiegelt das weiße Klischee vom schwarzen Kleinkriminellen aus Harlem wider. Und es gibt Katie, die als Stereotyp der servilen Asiatin gelesen werden kann. Bradshaw stellt die Schichtzugehörigkeit über die Rassenzugehörigkeit und sagt, in der Mittelklasse benehmen sich alle gleich schlecht. Mit anderen Stücken hat er in New York Diskussionen darüber ausgelöst, ob man so über Schwarze schreiben dürfe. Was ist für Sie das wichtigste Stück des Festivals? „The Change“ des jungen Autors Branden Jacobs-Jenkins, weil es den aktuellen neuen Diskurs über „Race“ und kulturelle Identität vor dem Hintergrund der Wahl Barack Obamas aufnimmt. Es geht um einen jungen Afroamerikaner, der einen Job sucht und in einem schlecht laufenden Coffeeshop eingestellt wird. Sein Chef kämpft gegen die Gentrification des Viertels. In den Dialogen der beiden verschieben sich die Perspektiven der gegenseitigen Wahrnehmung. Es ist der direkteste Beitrag zur brandaktuellen „Blackness-Debatte“ in den USA. Wie Bradshaw hinterfragt auch Jacobs-Jenkins die Stereotype vom Afroamerikaner und versucht, die Stereotypisierung des politisch korrekten, „weißen“ Amerika wie auch die der von der Bürgerrechtsbewegung geprägten „Black-Pride“-Bewegung aufzuzeigen. In „The Change“ sitzen zwei weiße Drehbuchautoren im Café und entwerfen ständig Szenen mit Latinas oder Polen, die sie dann doch wieder gegen Araber austauschen. Stereotype zu hinterfragen ist ja ein Thema, mit dem sich zum Beispiel auch die Cultural Studies beschäftigen. Für das Theater sehen Sie darin ebenfalls einen neuen Ansatz? Ja. Zumal sich die Reproduktion der Stereotype ja fortsetzt. Darüber erfahren wir sicherlich mehr von den Autoren, wenn sie nach Bielefeld zum Festival kommen. Kann das Theater Bielefeld so ein Festival allein stemmen? Nein, ich habe da sehr viele Drittmittel eingeworben, über das NRW-Kultursekretariat, das US-Generalkonsulat und die Bielefelder Theaterfreunde. Die Übersetzungen werden von S. Fischer Theaterverlag bezahlt. Das Theaterlabor im Tor 6 koproduziert ein Stück, das Schlosstheater Moers bringt eine Inszenierung zum Festival, sechs New Yorker Theater tragen die gesamten Reisekosten für alle Gäste. Vier Tage dauert Ihr Festival „Voices of Change“. Was können Sie damit erreichen? Das andere, das subversive Amerika nimmt man bei uns kaum wahr. Diese Subkultur hat ein eigenes Modell für ihre Auseinandersetzung mit Politik, Gesellschaft und Kultur entwickelt, und das soll auch eine Chance bekommen, hier gesehen zu werden.
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