: Wo sind all die Grünen hin?
ANALYSE Sie sahen sich schon als Volkspartei, nun stehen sie in der dritten und vierten Reihe. Beobachtungen aus den Grünen-Hochburgen Prenzlauer Berg und Kreuzberg
■ Er hatte ziemlich laut getönt. Er, Özcan Mutlu, der türkischstämmige Landespolitiker, könne den Wahlkreis Mitte gewinnen, indem er Tausende Nichtwähler mit Migrationshintergrund an die Wahlurnen ziehe. Das hat der 46-Jährige nicht einlösen können: Mit 18,6 Prozent liegt Mutlu nicht nur hinter Siegerin Eva Högl (SPD, 28,2 Prozent), sondern auch hinter CDU-Mann Philipp Lengsfeld. Immerhin schnitt er besser ab als das grüne Zweitstimmenergebnis.
■ Sehr grämen muss sich Mutlu sowieso nicht: Als Nummer zwei auf der Landesliste kommt er trotzdem in den Bundestag – dank seiner „Mutlu rennt“-Termine sogar um zehn Kilo erleichtert. (sta)
In der Kollwitzstraße geht am Morgen nach der Wahl alles seinen Gang. Eltern bringen ihre Kinder zur Schule, die Kreativen huschen mit Coffee to go ins Büro. Und doch ist alles ein wenig anders in dieser Hochburg der grünen Mitte. Bei der Bundestagswahl 2009 hatten die Grünen im Wahlbezirk 811 noch 36,4 Prozent der Zweitstimmen bekommen – als mit Abstand stärkste Partei. Am Sonntag langte es nur noch für 24,2 Prozent.
Die Grünen sind die Verlierer der Wahl in Berlin. Landesweit sind sie von 17,4 auf 12,3 Prozent gefallen. Damit liegt die Partei, die vor zwei Jahren in Umfragen noch auf 30 Prozent taxiert wurde, hinter der CDU (28,5), der SPD (24,6) und der Linken (18,5) nur noch auf Platz vier. „Auf breiter Basis“, so die Analyse von Landeswahlleiterin Petra Michaelis-Merzbach, seien die Grünen „abgebröckelt“.
Jeder Zweite ging zur CDU
Doch Verlust ist nicht gleich Verlust – auch das zeigt ein Vergleich der Ergebnisse 2009 und 2013 im Wahlbezirk 811: Während die Linke zwischen Prenzlauer Allee und Kollwitzplatz um 2,7 Prozent zulegen konnte und die SPD um 4,5 Prozent, haben die Christdemokraten mit einem Plus von 6,3 Prozent gewonnen. Jede zweite Stimme, die die Grünen in diesem eher schicken Kiez verloren, ging an die CDU. „Dass wir aber so viele Stimmen an die CDU abgegeben haben, verblüfft mich“, versucht sich Andreas Otto, mit 14,7 Prozent abgestrafter Direktkandidat, an einer Wahlanalyse.
Dass Grüne und CDU in Prenzlauer Berg im gleichen Lager fischen, zeigt sich auch im Wahlbezirk 817 in der Oderberger Straße. In diesem eher grün-alternativen als grün-bürgerlichen Straßenzug hatten die Grünen 2009 39,4 Prozent der Zweitstimmen geholt. Am Sonntag waren es nur noch 26,9 Prozent – ein Verlust von 12,5 Prozent. Auch in der Oderberger hat die CDU dazugewonnen, allerdings nur um 4 Prozent. Die meisten Stimmen der Grünen gingen mit einem Plus von 6,5 Prozent an die SPD. SPD und CDU gewinnen also beide die grünen Stimmen.
Ist Andreas Otto der große Verlierer in Pankow, kann sich CDU-Direktkandidat Lars Zimmermann als Sieger fühlen – auch wenn das Mandat an die Linke ging. Auf 23,9 Prozent der Erststimmen war der eher unkonventionelle CDU-Politiker im Wahlkreis 76 gekommen, der neben Prenzlauer Berg und Pankow (Alt) auch Weißensee und Buch umfasst. Auf Stefan Liebich von der Linken entfielen 28,3 Prozent der Erststimmen. Platz drei ging an den SPD-Mann Klaus Mindrup (21,0), abgeschlagen auf Platz vier landete Andreas Otto.
Auch bei den Erststimmen bestätigte sich also die grün-schwarze Wählerwanderung: 2009 hatten die Grünen mit Heiko Thomas noch 16,3 Prozent geholt, die CDU mit Gottfried Ludewig dagegen nur 17,4 Prozent. Doch Zimmermann tröstet die Grünen. „Das ist eine schwarz-grüne Schnittmenge“, sagt er.
UWE RADA
Das hat sich Christian Ströbele sicher anders vorgestellt. 46,7 Prozent der Erststimmen hatte das Urgestein der linken Grünen 2009 im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost geholt – fast die absolute Mehrheit. Am Sonntag aber fiel Ströbele auf 39,7 Prozent zurück. „Im ersten Moment dachte ich: Was mach ich, wenn ich das Direktmandat nicht bekomme? Eine Reise?“, verriet Ströbele sein Gefühlsleben in der Wahlnacht. Zwar reichte es am Ende noch. Doch der Nimbus vom grünen König von Kreuzberg hat Kratzer bekommen.
Vor allem bei den Zweitstimmen haben die Grünen im Wahlkreis 83 Federn lassen müssen. Mit 20,7 Prozent sind sie hinter der Linken mit 25,1 Prozent und der SPD mit 24,2 Prozent nur noch drittstärkste Kraft in ihrer einstigen Hochburg.
„Größte Veränderung“
Vor vier Jahren war das Verhältnis umgekehrt: Bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 lagen die Grünen bei den Zweitstimmen mit 29,2 Prozent vorne, gefolgt von den Linken mit 23,9 und der SPD mit 20,2 Prozent. „Der Stimmenverlust in Friedrichshain-Kreuzberg ist für die Grünen die größte Veränderung eines Bezirksergebnisses“, stellt Landeswahlleiterin Petra Michaelis-Merzbach in ihrer Wahlanalyse fest.
Wohin gingen aber die Stimmen der Grünen? Ebenfalls an die CDU wie in der anderen Hochburg Prenzlauer Berg?
Der Bergmannkiez in Kreuzberg ist ein grüner Wohlfühlkiez. Eigentlich. Am Sonntag aber war den Grünen dort nicht zum Jubeln zumute. 32,4 Prozent der Zweitstimmen hatten sie 2009 im Wahlbezirk 110 geholt. Am Sonntag waren es nur noch 27,6 Prozent – ein Verlust von 4,7 Prozentpunkten. Gewonnen hat aber nicht die CDU, sondern die Linke und die SPD. Die Linken verbesserten sich um 4,8 Prozentpunkte auf 21,7 Prozent. Die SPD packte auf ihr Zweitstimmenergebnis von 24,9 Prozent zwei Prozentpunkte drauf.
Werner Graf vom Geschäftsführenden Ausschuss des grünen Kreisverbands spricht vom negativen Bundestrend, der den Grünen auch in Kreuzberg entgegengeweht habe. Das ist insofern erstaunlich, als Spitzenkandidat Trittin mit seinem Steuerprogramm ausdrücklich auf Mehrbelastungen der Reichen setzte. Aber offenbar ziehen die Wähler, wenn es schon um linke Inhalte geht, das Original der Kopie vor.
Etwas anders verhielt es sich in Prenzlauer Berg Ost, das ebenso zu Ströbeles Wahlkreis gehört. In der Christburger Straße im Wahlbezirk 804 verloren die Grünen satte 12,7 Prozent. Die Gewinne der Linken betrugen 7,7 Prozentpunkte, die der CDU 4. Was die grüne Wählerwanderung betrifft, liegt der Winsstraßenkiez, der noch nicht so durchgestylt ist wie der Rest des Prenzlauer Bergs, genau zwischen Kollwitzplatz und Bergmannkiez.
UWE RADA
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