: Zwei füreinander
EHE Als sie sich zum ersten Mal sehen, sticht sie ihn fast ab. Banu und Firat, eine Nacht im September 2008. Sie die Täterin, er das Opfer. Vier Jahre später heiraten sie. Die große Liebe. Aber wahrscheinlich ohne Happy End
AUS BERLIN DOMINIK DRUTSCHMANN (TEXT) UND ANJA WEBER (FOTOS)
Es gibt Tage, die schon nicht gut beginnen und nur noch schlimmer werden. Für Banu Olgun ist dies so ein Tag. Ein Samstag, Ende August 2008. Banu hat schlecht geschlafen. Erst gestern hat sie sich von ihrem Freund getrennt. Sie ist mitgenommen, hat keinen Appetit. Liebeskummer. Ab mittags arbeitet sie im Café Lale in Berlin-Wedding. Ein Shisha-Café, von denen es dort so viele gibt. Ihre Schicht sollte bis 22 Uhr gehen, jetzt ist es fast Mitternacht und sie steht noch immer hinter der Theke. Banu will sich ablenken, den Kummer ausblenden. Ihr Ziel heute Abend: das Goya, ein Club in Berlin-Schöneberg, alles in Weiß, Säulen und Galerie. Wann kommst du?, fragen die Freundinnen. Banu ist genervt.
Es ist der Tag, den Firat Güngör nur knapp überleben wird. Sein 21. Geburtstag. Firat geht zum Friseur, anschließend auf die Sonnenbank. Ein bisschen Gesichtsfarbe könnte er vertragen, findet er. Er will gut aussehen. Der Tisch im türkischen Café auf der Oranienstraße in Kreuzberg ist reserviert, seine besten Freunde werden dabei sein. Und seine Freundin. Ein kleiner Kreis, bevor es zur großen Party geht. Ins Goya.
Irgendwann um kurz nach Mitternacht kommt Banu endlich bei ihren Freundinnen an. Sie öffnen eine Flasche Sekt. Banu kann sich nicht entspannen. Erst der Stress auf der Arbeit, und jetzt sind die Freundinnen noch nicht fertig. Sie müssen sich noch schminken, die Haare machen. Noch einmal feiern, bevor der Fastenmonat Ramadan beginnt. Banu schaut auf die Uhr, schon nach zwei. Sie kippt den Sekt runter.
Im Café in der Oranienstraße feiert Firat mit seinen Freunden. Er sitzt am Kopfende, wie der Pate in einem Mafiafilm. Eigentlich ein ruhiger Typ, aber das gefällt ihm. Er trinkt ein paar Cocktails. Nach und nach geben ihm seine Freunde die Geschenke. Als Letztes bekommt er eine schmale Schatulle. Im Innern ein Klappmesser, die Klinge vielleicht sechs Zentimeter lang. Sein Herz pocht. Er hat schon oft ein solches Messer in der Hand gehalten. Warum nur schnürt sich jetzt seine Kehle zusammen? Er lässt sich nichts anmerken, steckt das Messer ein. Die schlechten Gedanken vertreibt er mit Tilidin, einem verschreibungspflichtigen Medikament, das munter macht, stark und aggressiv. Firat nimmt es schon seit ein paar Jahren. Die Wirkung setzt ein. Es ist kurz nach Mitternacht. Zeit, richtig Party zu machen. Auf ins Goya.
Gegen drei Uhr nachts kommen Banu und ihre Freundinnen im Club an. Sie bestellen zwei Flaschen Wodka, dazu ein paar Dosen Red Bull. Während ihre Freundinnen zwischen Tanzfläche und Theke hin- und herwechseln, sitzt Banu an der Bar und trinkt. Ein Glas nach dem anderen. Sie trinkt mittlerweile täglich. Später wird man einen Blutalkoholwert von rund zwei Promille feststellen. An der Theke zündet sie sich eine Zigarette an, der Barkeeper ermahnt sie, Banu reagiert nicht. Der Mann hinterm Tresen schüttet ein Glas Wasser über ihre Zigarette, ihre Hand, ihre Klamotten. Banu rastet aus.
Firat feiert mit seinen Freunden in einer Ecke des Clubs. Sie tanzen, trinken, er hat seine Freundin gerade nach Hause geschickt. Firat will jetzt mit seinen Jungs feiern. Er ist angetrunken und rempelt andere Gäste an. Er fühlt sich stark. Seine Freundin kommt noch einmal zurück, sie macht sich Sorgen, weil er so aufgekratzt wirkt. Sie fordert das Messer, das ihm gerade erst geschenkt wurde. Bevor noch etwas passiert. Nach kurzem Zögern gibt er es ihr.
Banu streitet mit dem Barkeeper. Sie brüllt ihn an. Er entschuldigt sich. Doch Banu kommt nicht mehr raus aus ihrer Wut. Sie wird immer lauter. Das Sicherheitspersonal kommt hinzu. Sie wollen sie vor die Tür setzen, schubsen Banu Richtung Ausgang. Die wehrt sich. Irgendwann stehen sie vor dem Club. Ihre Freundinnen schaffen es nicht, Banu zu beruhigen.
Kurz vor sechs Uhr morgens haben Firat und seine Freunde genug. Sie haben den Club gerockt, so viel ist sicher. An der Tür passieren sie eine junge Frau – lockige Haare, Strumpfhose und Hotpants –, die den Türsteher anbrüllt. Firat geht hin. Er will die Frau beruhigen.
Die Wut hat Banu fest im Griff. Und jetzt kommt auch noch dieser Typ und labert irgendwas. Sie schreit ihn an. Er soll sich um seinen eigenen Scheiß kümmern.
Soll er sich das gefallen lassen? Firat will doch nur helfen. Er beleidigt sie, sagt irgendetwas über ihre Mutter. Beim Weggehen spuckt er in ihre Richtung.
Banu schaut ihm hinterher, 50 Meter trennen die beiden. Sie fragt eine Bekannte: „Hast du ein Messer?“
Er will helfen. Sie zückt das Messer
Draußen zündet sich Firat eine Zigarette an. Er hat die Sache schon fast wieder vergessen. Firats Kumpel sehen Banu, das Messer, wie sie auf ihn zu rennt. „Pass auf“, rufen sie, „ein Messer!“ Firat dreht sich um. Vor ihm Banu. „Nimm das!“, schreit sie. Er versucht auszuweichen. Der erste Stich trifft Firat unterhalb des linken Schulterblatts. Noch fünfmal sticht Banu auf ihn ein. Trifft ihn am Kopf, in die Brust. Blut sickert in sein weißes Hemd, Firat wird schwarz vor Augen.
Fünf Jahre später sitzt Banu Olgun in einem Café in Neukölln und erzählt ihre Geschichte. Sie deckt sich mit den Gerichtsakten, dem Urteil und den Gutachten der Psychologen. Kommenden Januar wird Banu 30. Eine gepflegte Frau, das Pink der lackierten Fingernägel passend zum Schal. Die schwarzen Haare zurückgekämmt, das Gesicht aufwendig geschminkt. Sie ist nervös. Wo bleibt ihr Mann? Immer wieder holt sie das Handy hervor, scrollt durchs Telefonbuch, bis sie bei „Schatzi“ angekommen ist. Doch der hebt nicht ab.
Als Firat Güngör endlich kommt, fällt die Anspannung von ihr ab. „Da bist du ja“, ruft sie. Ihr Gesicht hellt sich auf. Sie küssen sich.
Opfer und Täter sind jetzt Mann und Frau. Im vergangenen Jahr im September haben sie geheiratet, knapp vier Jahre nach der Tat. Banu trägt einen schlichten Goldring am rechten Ringfinger, darin ist Firats Name eingraviert.
Das könnte das Happy End sein. Aber das ist es nicht.
Die Tat, die Banu Olgun und Firat Güngör zusammengebracht hat, könnte sie jetzt wieder trennen. Es geht ums Verzeihen und die Frage, wann eine Tat gesühnt ist und wie sehr sich ein Mensch ändern kann. Banu hat ihre Strafe verbüßt, sie hat eine Therapie gemacht, nimmt keine Drogen, trinkt keinen Alkohol – aber reicht das? Das Berliner Verwaltungsgericht kommt zu dem Schluss, dass sie weiterhin eine Gefahr für die Öffentlichkeit ist. Banu droht die Abschiebung.
Heute ist Firats Geburtstag, er wird 26 Jahre alt. Um Mitternacht hat Banu ihm tief in die Augen geschaut. „Ich liebe dich.“ Sie haben sich umarmt. Geküsst. Banu hat geweint. An Firats Geburtstag jährt sich die Tat, die ihrer beiden Leben verändert und die Firat seines fast gekostet hat.
Fünf Jahre zuvor: Firat liegt leblos am Boden. Aus den sechs Einstichwunden spritzt das Blut. Eine Türsteherin rennt zu ihm, drückt auf die Wunden, versucht die Blutung zu stoppen. Sie zieht seine Zunge aus dem Rachen. Er drohte zu ersticken. Seine Freunde haben Banu überwältigt, sie sitzt mit Handschellen im Polizeiauto und tritt von innen gegen die Tür, gegen die Sitze. Sie kann sich noch immer nicht beruhigen. Endlich kommt der Krankenwagen.
Auf der Wache will Banu nur eins wissen: „Wie geht es ihm?“ Die Polizeibeamten rufen im Krankenhaus an. In der Charité wird Firat gerade notoperiert. Der Arzt sagt, er wisse nicht, ob der Patient es schafft. Banu bekommt Beruhigungsmittel.
Die ersten Tage in der Untersuchungshaft, sagt sie heute, waren zeitlos. Sie vergingen rasend schnell und gleichzeitig wie in Zeitlupe. Irgendwann liest ihr eine Wärterin aus der Zeitung vor. Firat sei nach ein paar Tagen aus dem künstlichen Koma erwacht, er lebt. Banu ist erleichtert, schreibt einen Brief an ihn. Den ersten von vielen Briefen, die sie im Laufe der Haft an Firat schreiben wird.
Ein paar Tage nach seinem 26. Geburtstag sitzen Firat und Banu in seiner Wohnung. Ein knapp 30 Quadratmeter großer Raum in einem der Betonklötze im Berliner Stadtteil Neukölln. Unten im Hausflur stinkt es nach Urin, der Boden des winzigen Fahrstuhls ist von Zigarettenstummeln übersät. Sie haben es sich in der Wohnung so schön gemacht, wie es geht. Das Bett reicht bis zur Couch, von der Couch sind es zwei Schritte auf den kleinen Balkon; ein Schritt in die winzige Küche. Über dem Bett hängt ein Bild der beiden. Es sieht so aus, als sei es zerrissen und wieder geflickt worden. Über der Tür zum Flur hängt ein Schnipsel, ausgeschnitten aus einem Magazin. Nur ein Wort steht darauf: Harmonie.
Auf Banus Schoß ein Ordner, darin all die Briefe, die sie ihm aus der Haft geschrieben hat. „Es tut mir so leid“, steht dort. Und: „Ich bin eine Schande.“ Firat hat die Briefe zuerst nicht gelesen. Er konnte das nicht. Vor Gericht blickte er an ihr vorbei. Banu erkannte ihn nicht. Zehn Monate lang hatte sie ein Bild von ihm vor Augen. Und dann sitzt dort dieser junge Mann, klein, fast zierlich. Sie gesteht die Tat. Je länger sie ihn anstarrt, desto größer werden ihre Schuldgefühle.
Aber da ist noch etwas anderes. Vor dem zweiten Verhandlungstag macht sich Banu schick. Sie trägt Make-up auf, richtet ihre Frisur. Irgendwie freut sie sich auf den Gerichtstermin.
Am 23. Juni 2009 wird Banu Olgun wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Sie selbst bekommt das Urteil kaum mit. „Ich hatte nur Augen für ihn“, sagt sie. Heute müssen beide lachen, wenn sie sagen: „Wie sind nicht das Stockholmsyndrom, wir sind das Berlinsyndrom.“ Das Stockholmsyndrom, wenn Opfer während einer Geiselnahme ein positives Verhältnis zu ihrem Entführer aufbauen.
Im Knast. Banu denkt immer nur an Firat
Banu wird in der Abteilung I für forensische Psychiatrie im Krankenhaus des Maßregelvollzugs untergebracht. In einer ersten Diagnose wird Banu eine leichte Hirnschädigung attestiert, weil bei der Untersuchung kein Patellarsehnenreflex festgestellt werden kann. Dazu eine schwere histrionische Persönlichkeitsstörung auf Borderlineniveau. Die Symptome: übertriebene Emotionalität und ein übermäßiges Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Während eingehender Untersuchungen wurden beide Diagnosen später widerlegt.
Banu selbst sagt, dass es gut gewesen sei, in den Maßregelvollzug zu kommen. „Richtiger Knast ist hart“, sagt sie, „Drogen, Gewalt – ich will nicht wissen, was da aus mir geworden wäre.“
Am Tag, am Abend, während der Haft denkt Banu fast immer an Firat. Schuldgefühle mischen sich mit diesem komischen Kribbeln im Bauch. Irgendwann ruft er an. „Ich dachte erst, wir hätten nichts zu besprechen“, sagt Banu. Sie telefonieren fast zwei Stunden. Sie lädt ihn ein, sie zu besuchen.
Banu ist aufgeregt. Sie putzt sich heraus, schminkt sich noch sorgfältiger als sonst, die Fingernägel perfekt lackiert. Auch er hat sich zurechtgemacht, die Haare gegelt, Banu riecht sein Parfüm.
Das hier, begreifen beide in dem kleinen Besucherraum, ist ihr erstes Date.
Als sie alleine sind, sagt Firat: „Du darfst mir nie wieder weh tun.“ Banu weint. Er hält ihre Hand, fragt, ob er sie küssen darf. „Das“, sagt Banu, „hat mich vorher noch nie ein Junge gefragt.“ Immer häufiger besucht Firat Banu. Er macht ihr Geschenke, Schmuck und das neue Handy, das sie unbedingt haben wollte. Wo das Geld herkommt, weiß sie nicht.
Ein Jahr nach der Tat wird Firat in seiner Wohnung überfallen, brutal zusammengeschlagen. Mit seinen Freunden hatte er Rezepte gefälscht, um an Tilidin zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt ist er längst selbst abhängig, nimmt mittlerweile Subutex, ein chemisches Opiat. Banu setzt ihm ein Ultimatum: Ich oder die Drogen. Firat entscheidet sich für Banu, macht eine Therapie. Er wendet sich von dem alten Freundeskreis ab. Banus Anwalt Anto Vukadin vertritt nicht nur sie, auch Firat ist sein Mandant. Vukadin kennt Firat noch, als der auf Tilidin war. Ein normales Gespräch sei damals nicht möglich gewesen. „Banu hat einen guten Einfluss auf ihn“, sagt er heute. Dinge, die sie in der Therapie lernte, gab sie an Firat weiter.
Die Beziehung der beiden ist schwierig. Die Leitung des Maßregelvollzugs schaut mit Sorge auf die neue Liebe. Und dann ist da noch Firats Familie. In dem Milieu, aus dem Banu und Firat kommen, bleibt eine solche Tat selten ungesühnt. „Mein Bruder, meine Freunde hatten schon alles geplant“, sagt Firat. Er hält sie ab, indem er immer wieder seine Liebe zu ihr beteuert.
Alles schien ein gutes Ende zu nehmen. Bis zu dem Anruf ihres Anwalts Ende August. Er hatte gerade den Brief vom Verwaltungsgericht bekommen: Die Klage gegen eine Abschiebung wurde abgelehnt. Banus Duldung läuft am 7. Oktober aus. Obwohl ihr Anwalt in Berufung geht, droht ihr die Abschiebung. Die Ausländerbehörde hat in Aussicht gestellt, die Duldung noch einmal zu verlängern. Sicher kann Banu nicht sein.
Sie kennt die Türkei kaum, spricht die Sprache nur rudimentär. Sie leidet unter Flugangst, war das letzte Mal vor zehn Jahren bei ihren Verwandten. Sie versteht das alles nicht. Sie ist doch hier geboren, ihre ganze Familie ist hier. „Seit der Tat habe ich mein Leben verändert“, sagt sie, „ich habe alles gemacht, was von mir verlangt wurde.“
In Firats Wohnung. Er streichelt ihr mit der Hand über den Rücken, so will er die Tränen, die sich in ihren Augen bilden, stoppen. „Ich habe ihr verziehen“, sagt Firat, „und mich hat sie fast umgebracht. Warum verzeiht die Gesellschaft nicht?“ Das Schlimmste, sagen beide, ist die Ungewissheit, das Warten. Immer wieder denkt Banu über die Tat nach, wie es dazu kommen konnte. Sie versucht keine Entschuldigung zu finden. Sie will nur, dass man ihre Lage versteht. „Manchmal“, sagt sie, „frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich behüteter aufgewachsen wäre.“
Banu und Firat sind in Berlin geboren, haben beide die türkische Staatsbürgerschaft. Firat wächst in Kreuzberg auf, am Kottbusser Tor. Ein Brennpunkt, bestimmt durch Drogen und Gewalt. In seiner Jugend noch mehr als heute. Der Vater verlässt die Familie früh. Einen Schulabschluss hat Firat nicht.
Banu verbringt ihre Kindheit und Jugend im Wedding, ebenfalls ein Brennpunkt, auch wenn Banu sagt, dass es lange nicht so schlimm gewesen sei wie am Kottbusser Tor. Der Vater alkoholabhängig, die Mutter verlässt die Familie, als Banu sieben Jahre alt ist. Seitdem lebt sie mit den beiden Brüdern und dem Vater zusammen. „Ich kannte nicht viel mehr als Alkohol und Schläge“, sagt sie.
Die zweite Klasse muss sie wiederholen. Die Probleme zu Hause werden immer auffälliger. Das Jugendamt nimmt sie aus der Familie. Doch Banu hat Angst, dass die Familie ihr etwas antut. Aus dem Heim haut sie immer wieder ab, zurück zum Vater, der sie misshandelt. „Wenn die mir hier was hätten antun wollen“, sagt sie, „wer hätte mir geholfen? Die Polizei? Vergiss es!“ Mit zwölf Jahren trinkt Banu das erste Mal Alkohol. Später kommen andere Drogen dazu. Sie kifft, nimmt Kokain. Ihre Probleme löst sie mit Gewalt.
Sie ist diejenige aus der Clique, die gerufen wird, wenn es Stunk gibt und wieder mal einer einen Denkzettel braucht. Unter dem Pseudonym Lady Cash nimmt sie 2008, im Jahr der Tat, zwei HipHop-Tracks auf. Einer heißt „Geben und Nehmen“, darin rappt sie: „Ich ziehe mein Messer und werd’ euch abstechen / Und werde gehen mit ein böses Lächeln.“ Bis zu der Nacht im Goya, als sie ihren jetzigen Ehemann fast umbringt, ist sie bereits siebenmal straffällig geworden. Sechsmal wegen Körperverletzung, einmal wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Zum Tatzeitpunkt ist sie noch auf Bewährung.
Im Maßregelvollzug aber läuft es gut. Banu ist kooperativ, beginnt eine Therapie, arbeitet als einzige Frau in der Malerwerkstatt auf dem Gelände. Zu ihrem Therapeuten baut sie ein vertrauensvolles Verhältnis auf. Einmal bekommt sie Pralinen geschenkt, per Post. Sie merkt zuerst nicht, dass sie Alkohol enthalten. Irgendjemand verpfeift sie. Als ihr Therapeut sie darauf anspricht, windet sich Banu. Der Therapeut haut auf den Tisch. „Verdammt Banu, du darfst Fehler machen, begreif das doch endlich.“ So erzählt es Banu.
Fehler aber bedeuteten bei ihr zu Hause Schläge. In den vielen Therapiestunden hat sie gelernt, dass es zwei Arten von Opfern gibt: Die einen sind zu Hause Opfer und werden es auch draußen auf der Straße. Die anderen werden draußen zu Tätern. „Und ich“, sagt Banu, „gehörte definitiv zu letzterer Gattung“.
Begnadigt. Endlich kann sie ihr Leben aufbauen
Nach gut einem Jahr bekommt sie Vollzugslockerung, darf in Begleitung nach draußen. Anfang 2011 an Wochenenden sogar ohne Aufsicht zu ihrer Familie, zu ihrer alten Arbeitsstelle im Café Lale im Wedding. Einen Monat später zieht sie in ihre eigene Wohnung, wird durch die Berliner Stadtmission betreut. Dort versäumt sie einmal, sich krank zu melden. Prompt muss sie für zwei Tage zurück in den Maßregelvollzug. Trotzdem wird sie am 3. Februar 2012 entlassen. Eigentlich müsste jetzt die Bewährung aus einer der vorherigen Straftaten greifen. Doch Banu wird aufgrund ihrer durchgehend positiven Prognosen und Gutachten begnadigt. Seit 2009 trinkt sie keinen Alkohol mehr, lebt drogenfrei, ihre Therapie hat sie erfolgreich abgeschlossen. Auch ihre Familienangelegenheiten hat sie geklärt. Sie hat Kontakt zu ihrem Vater, nach allem, was vorgefallen ist. Hat ihre Mutter in Hamburg aufgespürt. Sie telefonieren täglich.
Endlich kann sie sich ein Leben aufbauen. Mit Firat.
Der Brief vom Verwaltungsgericht Berlin macht die Hoffnung zunichte. Darin steht, „dass von der Klägerin auch zukünftig Gefahren für die öffentliche Sicherheit ausgehen werden, da keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Klägerin ihrem Leben eine grundlegende Wende gegeben habe.“ Trotz positiver Prognosen, Therapie, Begnadigung und vorzeitiger Entlassung aus dem Maßregelvollzug.
Von ihrem Anwalt hat Banu sich erklären lassen, wie Strafe in Deutschland definiert ist. Dass es um Resozialisierung geht, darum, die Täter wieder in die Gesellschaft einzugliedern. „Nur, wie soll ich das machen, wenn ich nicht mal einen Pass habe, keine Arbeitserlaubnis?“ Zwischenzeitlich hatte sie ein unbezahltes Praktikum in einer Bäckerei absolviert. Damit ihr Tag wieder eine Struktur hat, damit sie nicht in alte Muster verfällt.
In der kleinen Wohnung sitzen sie und warten. Firat schaltet den Fernseher ein, „Berlin Tag & Nacht“, eine Serie. „Joe hat immer noch Gefühle für Peggy“, sagt Firat zu Banu. Er wird mitgehen, wenn Banu das Land verlassen muss, das ist der Plan. „Ich lasse sie nicht alleine.“ Wie es dort weitergehen soll, wissen sie nicht. Sie streiten in letzter Zeit wieder häufiger. Ihre Kleidung hat Banu neben dem Sofa gestapelt. Die Koffer stehen schon hinter der Tür zum Flur, auf dem das große Wort „Harmonie“ auf einem kleinen Schnipsel steht. An der Tür zur Wohnung noch so ein Schnipsel. Auf ihm steht „Glück“. Sie werden gemeinsam durch diese Tür gehen.
■ Dominik Drutschmann, 29, ist freier Journalist in Berlin.
■ Anja Weber ist freie Fotografin in Berlin.
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