: Das Projekt „Aufbau Ost“
Die Neue Große Bergstraße in Hamburg-Altona ist eine urbane Wüste mit dem Charme der Siebziger. Nun soll die abgewrackte Einkaufsmeile durch Kunstprojekte wiederbelebt werden. Bislang funktioniert das erstaunlich gut
Von Anna Niewelerund Anja Tiedge
Die Hinweisschilder im Altonaer Bahnhof kennen keinen Kompromiss: Es geht entweder nach Westen in die Ottenser Hauptstraße oder ostwärts in die Neue Große Bergstraße.
In den Westen, wo das Leben tobt. Wo man sich gegenseitig auf die Füße tritt und schon mal von gestressten Verkäufern zurechtgewiesen wird.
Oder in den Osten, auf eine scheinbar endlos lange wie breite Einkaufsstraße, die von leer stehenden Hochhäusern gesäumt wird. Das aufkommende Gefühl der Einsamkeit liegt vielleicht am ungleichen Verhältnis: wenige Menschen in vielen Geschäften, hauptsächlich Second-hand- und Ein-Euro-Shops.
Also: Westen oder Osten, links oder rechts, schwarz oder weiß – oder doch besser: grau. Kein grünes Fleckchen in Sicht – es besteht jedoch noch Hoffnung: Auf einem Wahlplakat ist in großen Lettern „Ja zu Grün“ zu lesen.
Vor dem Woolworth-Markt steht ein Verkäufer und preist über ein Mikrofon Billiguhren an. Seine „Riesenauswahlvielfalt“ schallt über die ganze Straße. Ihm kommt man lieber nicht zu nahe, da er jeden Passanten persönlich von der Qualität seiner Fünf-Euro-„Markenuhren“ überzeugen will. Dabei wirkt der Straßenzug zwar trostlos, aber irgendwie auch ehrlich: Hier halten die Geschäfte noch das, was ihre Namen versprechen, wie der „Kleidermarkt“. Allerdings auch unfreiwillig ehrlich, weil sich der Leerstand kaum vertuschen lässt. An einem Schaufenster ist zu lesen „... das Gute liegt so nah“. Nur wo? Vielleicht auf der anderen Seite des Bahnhofs?
Eigentlich fing in den sechziger Jahren alles gut an. Die Neue Große Bergstraße, Deutschlands erste großstädtische Fußgängerzone, erstreckte sich vom Altonaer Bahnhof bis zum Nobistor an der Reeperbahn. In den siebziger Jahren wurde sie um die Hälfte verkürzt. Das war auch die Geburtsstunde der ungeliebten grauen Hochhäuser und Gebäudekomplexe, die in den neunziger Jahren den damaligen Hamburger Oberbaudirektor Egbert Kossak zu der Aussage veranlassten „Am besten wäre es, diese Bausünden in die Luft zu sprengen.“
Es gibt eine Alternative, auch wenn der Plan verwegen klingt: aus der einstigen Flanier- eine Kunstmeile zu machen. Ein Beispiel dafür ist der Gebäudekomplex „Forum“ und „Frappant“, der seit 2003 weitgehend leer steht und auf dem noch die Abdrücke der ehemaligen Karstadt-Leuchtreklame zu sehen sind. In dem einstigen Einkaufszentrum befinden sich mittlerweile Atelier- und Galerieräume, die eine kulturelle Belebung für die direkte Umgebung bringen sollen. Seit Anfang April beherbergen sie die Kunstausstellung DING DONG!.
Statt trockener, heißer Kaufhausabluft, die den Besuchern entgegenpustet, steht im Eingangsbereich ein Mann in den mittleren Jahren. Er hält, ohne auf verständnislose Blicke einzugehen, eine Schranktür auf. Sie trennt die Trostlosigkeit der Großen Bergstraße von einer kreativen Baustelle. Die nächsten Schritte macht der Gast staunenden Blickes auf einer Brücke über jede Menge Ramsch und Plunder aus den letzten Jahrzehnten und manchem, was früher einmal wertvoll oder modern war. Spielzeug, Pampers, Staubsauger, eine Joan-Baez-Platte, eine Gummipuppe im Kinderlaufstall, haufenweise Alltags- und Haushaltsausstattung, Zivilisationskitsch. Man bekommt ein Gefühl dafür, was die Berliner Band „Kleingeldprinzessin“ meint mit der Liedzeile „Zivilisation ist die ständige Vermehrung unnötiger Notwendigkeiten.“
Es müssen einem die Billigläden in der Neuen Großen Bergstraße einfallen, wenn man da so über den Dingen steht und auf den ganzen Pröttel hinabblickt. Im Hintergrund laufen Jazz und eine Kreissäge. Die Ausstellung ist eine Baustelle – „work in progress“.
„Sie ist so konzipiert, dass sie fertig ist, wenn nach drei Wochen der letzte Besucher die Ausstellung verlassen hat“, sagt Dalia Karg. Die 23-Jährige arbeitet an der großen Theke inmitten eines riesenhaften Wohnzimmers. Bei ihr bekommt man Kaffee umsonst. Man könne öfter kommen, sagt sie, „weil sich jedes Mal etwas verändert hat“. In einer Wand, die komplett aus Möbelteilen und Sofas besteht, hocken zwei Männer und unterhalten sich angeregt. Sonst ist nicht viel los. „Abends und am Wochenende wird es stressig“, meint sie, wenn bis Mitternacht oder länger geöffnet ist. „Am vorigen Samstag sind die Letzten um halb sieben morgens gegangen.“ Literarische und musikalische Veranstaltungen und Parties sind ins Programm integriert.
Ein einsamer Fernseher steht wie zufällig am Rand. Es laufen Bilder. Sie zeigen Betten, Schlafstätten, die verschiedensten, die man sich vorstellen kann. Menschliche Alltagskultur. An anderer Stelle gibt es vier Monitore, auf denen Menschen wie eine lebendige Uhr das Ticken im Sekundentakt nachmachen. Tick-Tack. Tick-Tack.Tick-Tack. Immer dasselbe, ganz unterschiedlich.
Eine langweilige Einbauküche aus furniertem Holz lässt den Besucher zurückschrecken. Ganz unerwartet öffnen und schließen sich Schubladen und Schranktüren. Die Dunstabzugshaube über dem Herd setzt ein. Eine elektrische Pfeffermühle beginnt zu surren. In der Mikrowelle befindet sich eine Kamera, die den erstaunten Gast filmt. Dem Betrachter zeigt sich ein entzerrtes Bild der Wirklichkeit, eine Parodie auf die automatisierte Umwelt. Der Staubsauger fängt an zu brummen.
Hauptsächlich junge Menschen bauen in der ehemaligen Einkaufshalle auf 3.000 Quadratmetern ihre Kunstwerke auf. Sie kommen aus Japan, den USA, Großbritannien, aber auch aus Hamburg. Ein paar Jungs bauen an einem Haus, in dem eine benutzbare Halfpipe und eine Bar unterkommen sollen. Einer flitzt gerade mit dem Skateboard zum Büro im vorderen Bereich der Halle. Von der Straße kann man durchs Schaufenster hineinsehen: die Logistikzentrale, ausgestattet mit Laptops, Obst und Süßigkeiten. Viele Menschen bleiben draußen stehen und fragen sich, was der Betonklotz neuerdings zu bieten hat. Meist siegt die Neugier und sie kommen herein. Katrin Leitner aus der Künstlergruppe „Hüx‘l“ hat den Eindruck, dass das Stadtbelebungsprogramm ganz gut funktioniert. Die „Leute von der Straße schauen vorbei“, sagt sie. Es tauchten auch viele „türkische Muttis mit ihren Einkäufen und Kindern“ in der DING DONG!-Ausstellung auf. Der Künstler Rupprecht Matthies hat viele Schaufenstergucker bemerkt, die ihren Weg hinein gefunden haben. „Es gibt keine Berührungsängste“, meint er. Die Große Bergstraße wird „langsam belebt“. Am Wochenende waren 4.000 Besucher da. Das Projekt „Aufbau Ost“ schreitet voran.
Programm unter www.ding-dong.de
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