Die freieste Zeitung im Land

TÜRKEI Weil er für kurdische Medien arbeitete, saß Bedri Adanir fast drei Jahre im Gefängnis – und gründete dort eine Zeitung der Gefangenen

AUS ISTANBUL FRIEDERIKE MAYER

Dichte Rauchschwaden hängen in der Kantine der linken Tageszeitung Özgür Gündem, an den abgewetzten Plastiktischen unterhalten sich Männer beim Tee. Bedri Adanır sitzt in einer Ecke, dreht sein Teeglas in der Hand und spricht über seine Arbeit.

Bedri Adanır ist Journalist. Ein schmales Gesicht, die schütteren Haare trägt er sorgfältig zurückgekämmt, er lächelt nur selten. Fast drei Jahre lang, von Januar 2010 bis November 2012, saß Adanır im Gefängnis. In dieser Zeit gründete er zusammen mit anderen inhaftierten Journalisten eine Zeitung, die Tutuklu Gazete.

Adanır kam ins Gefängnis, weil er Artikel für kurdische Zeitungen geschrieben hatte und als Inhaber eines kleinen Verlags die Verteidigungsreden herausgab, die Abdullah Öcalan, Chef der militanten kurdischen Arbeiterpartei PKK, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hielt. Verurteilt wurde Adanır wegen Propaganda für die PKK.

Die Gefangenen

In keinem anderen Land der Welt sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in der Türkei. Im Jahr 2012 waren es noch über 100, aktuell sind es 62, doch die Zahlen ändern sich schnell. Viele von ihnen sind Kurden oder arbeiten für linke oder kurdische Medien. Die meisten sind als Mitglieder oder Unterstützer einer terroristischen Vereinigung angeklagt.

Das türkische Antiterrorgesetz wurde in den vergangenen Jahren mehrfach ausgeweitet. Es erlaubt dem Staat, Kritiker mit teils fadenscheiniger Begründung zu inhaftieren. Bis es zum Prozess kommt, vergehen oft viele Monate.

Der Menschenrechtsgerichtshof hat die Türkei deswegen mehrfach verurteilt. Nach Russland wurde letztes Jahr die Türkei mit 117 Verurteilungen am häufigsten vom EGMR abgestraft.

Als Bedri Adanır in seiner Heimatstadt Diyarbakır im Südosten der Türkei im Gefängnis saß, ärgerte es ihn, dass „die Regierung behauptete, es seien keine Journalisten inhaftiert, sondern nur Terroristen“. Er schrieb an die Journalistengewerkschaft und schlug vor, eine eigene Zeitung zu gründen, mit Artikeln von inhaftierten Journalisten. „Als Beweis für die Öffentlichkeit, dass wir keine Terroristen sind.“

Dem Vorsitzenden der Journalistengewerkschaft, Ercan Ipekçi, gefiel die Idee. Über 70 Briefe wurden an gefangene Journalisten geschickt, 39 von ihnen antworteten. Die Autoren für die ersten Beiträge der neuen Zeitung waren gefunden. Mit Gewerkschaftsgeldern und der Unterstützung der Europäischen Journalisten Föderation erschien im Juli 2011 die erste Ausgabe der Tutuklu Gazete, der „Gefangenenzeitung“.

Auf der Titelseite sind ein paar Handschellen abgebildet, in der Unterzeile steht: „Es gibt keine freie Gesellschaft ohne freien Journalismus.“ Die Schlagzeile auf der ersten Seite: „Widerstand gegen die Zensur.“ Die Namen aller inhaftierten Journalisten sind dort aufgelistet, und die Zahl ihrer Tage in Haft. Anfang 2012 erschien die zweite Ausgabe, der Aufmacher: „Wir sind keine Terroristen, sondern Journalisten.“

Die handgeschriebenen Artikel werden von den Zensoren gelesen, bevor sie das Gefängnis verlassen. Abgefangen wird fast nie etwas. „Das würde sich die Regierung nicht trauen, der öffentliche Aufschrei wäre zu groß“, sagt Adanır. Unter jedem Artikel steht ein Foto mit dem Namen des Autors und des Gefängnisses, in dem er einsitzt.

Die Autoren schreiben über die Gründe ihrer Haft, über ihre Haftbedingungen, sie schreiben politische Kommentare, oft ironisch, manchmal nachdenklich. Wie Soner Yalçin, der in der zweiten Ausgabe, nach 604 Tagen in Haft, schreibt: „In meinem Land führt der Weg zu einem anerkannten Intellektuellen über die Gefängnisjahre.“ In derselben Ausgabe schreibt Umit Alan: „Der Ministerpräsident dieses Landes traut sich zu sagen: ‚In der Türkei herrscht Pressefreiheit‘, sogar wenn 76 Journalisten im Gefängnis sind. Wenn die Journalisten regelmäßig zur Zielscheibe des Premierministers werden, dann ist tatsächlich die freieste Zeitung in der Türkei die Gefangenenzeitung.“

Die 16 Seiten starke Tutuklu Gazete erschien zuletzt mit einer Auflage von 100.000 Stück. In unregelmäßigen Abständen, die Gazete erscheint meist zu besonderen Anlässen wie zuletzt am Weltfriedenstag am 21. September 2012, liegt sie verschiedenen kleineren linken Tageszeitungen bei: Evrensel, Birgün, Cumhuriyet. Evrensel-Chefredakteur Fatih Polat hat gute Gründe, die Gefangenenzeitung zu unterstützen: Zwei seiner Journalisten sitzen momentan als Terroristen angeklagt im Gefängnis.

Die Formel

Adanır hat alle drei bisher erschienenen Ausgaben im Gefängnis mit produziert. „Die Tutuklu Gazete war zwar meine Idee“, sagt er. „Aber wir sind ein Kollektiv, ich möchte mich da nicht herausstellen.“ Dass Adanır Kurde ist, war auch der Grund, warum er Journalist wurde. „Fragt man junge Kurden, was sie einmal werden wollen, sagen viele entweder Anwalt oder Journalist.“ Er selbst wollte zunächst Mathematiker werden, seine Welt ist die der Zahlen. Eine klare Welt, in der es nur richtig oder falsch gibt. Doch er brach das Studium ab, fühlte sich „der Sache“, seinem Volk, verpflichtet.

In einem Artikel, den er für die Tutuklu Gazete schrieb, entwickelte er eine mathematische Formel: (fog) (x) = terörist r (x). f steht für eines der Terrorismusgesetze: „Das Gesetz zur Bekämpfung der Gesellschaft“, sagt er. g steht für die Aufgaben und Pflichten der Polizei. Die Formel solle ausdrücken, wie willkürlich die türkischen Terrorismusgesetze angewandt werden. Sorgfältig hat er zwei Kreise neben seinen Artikel gezeichnet. Menge A: Journalisten, Anwälte, Studenten. Alles Gruppen, die als politische Häftlinge die türkischen Gefängnisse füllen. Von jeder gehen Verbindungen zum anderen Kreis, Menge B: „Terörist“.

Adanır arbeitet jetzt wieder als freier Journalist, schreibt wieder Artikel, bei denen er nicht weiß, ob sie ihn ins Gefängnis bringen werden. Auch für Özgür Gündem, die als radikal prokurdisch gilt. Über 50 Mal wurde die Zeitung bereits verboten – nur um immer wieder unter neuem Namen zu erscheinen.

Bedri Adanır ist ein bisschen wie diese Zeitung: genauso radikal, genauso kompromisslos. Für ihn ist die PKK keine Terrororganisation, und das Misstrauen gegenüber seiner Regierung sitzt tief. Auch jetzt, trotz der Gesprächsbereitschaft, die Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan der PKK signalisiert hat.

Doch Pressefreiheit ist in der Türkei nicht nur ein kurdisches Problem. Die eigentliche Schwierigkeit liegt bei den Besitzverhältnissen der türkischen Medien. Die großen Medienkonzerne des Landes, die Çalık-Holding etwa, deren Chef Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak ist, gehören Geschäftsmännern, deren wirtschaftliche Interessen ein gutes Verhältnis zur Regierung erfordern.

Der Staat

„Alle Journalisten wissen, dass sie gefeuert werden können, wenn sie gegen die Regierung schreiben“, sagt Gewerkschaftschef Ipekçi. Er arbeitete früher für eine staatliche Nachrichtenagentur des Landes. Kurz nachdem die Gewerkschaft eine Kampagne für Pressefreiheit gestartet hatte, wurden er und 200 weitere Gewerkschaftsmitglieder gezwungen, in den Ruhestand zu gehen. Wer von den anderen seine Arbeit behalten wollte, musste aus der Gewerkschaft austreten. „Nach direkter Intervention des Ministerpräsidenten.“ Ipekçi will mit der Gazete die Aufmerksamkeit der türkischen wie auch der europäischen Öffentlichkeit auf die Situation von kritischen Journalisten in seinem Land lenken. „Die wenigsten sind sich der staatlichen Einflussnahme auf die Medien bewusst.“

Die nächste Ausgabe der Gazete ist schon in Planung. „Jedes Mal wenn wir die Tutuklu Gazete herausgeben, hoffen wir, dass es das letzte Mal war“, sagt Ipekçi. „Aber es sieht so aus, als wäre es weiterhin notwendig.“