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Alles nur geklaut

Was ein „deleteistischer“ Akt ist, illustriert ein versagender DVD-Player, der den Vortrag vorzeitig beendet: Das Video- und Musikfestival Rip It! beschäftigt sich mit dem Hang zum kreativen Diebstahl

VON MARKUS STRÖHLEIN

Eine Frau nickt ein. Eine andere verdreht die Augen. Zwei Männer nehmen ihre Jacken und schleichen aus dem abgedunkelten Raum. Der Referent zeigt sich unbeeindruckt. Zu sehr fesselt ihn die eigene Theorie. Die nennt er „Deleteismus“. Abgeleitet vom englischen „to delete“, soll sie ein „kulturelles Paradigma des Überschreibens, Löschens und Verwischens von Vorgängigem“ bezeichnen, sagt er. Sie soll zeigen, wie elektronisch erzeugte Kunstwerke verbergen können, was vor ihnen kam. Dazu zeigt der Redner das Video einer Hochhaussprengung, das mit Hilfe eines Vergrößerungseffekts in seltsamen Blasen aufgeht. Was das mit der Verschleierung von popkulturellen Bezügen zu tun hat, verstehen nicht einmal die Hörer, die noch nicht schlafen. So ereilt die Theorie des „Deleteismus“ das Schicksal der Hochhausaufnahmen. Sie bläht sich auf und wird zur Blase. Denn neu sind Arbeiten wie die gezeigte nicht. Der einzige „deleteistische“ Akt des Abends ist dann auch ein ungeplanter. Der DVD-Player versagt plötzlich, löscht das Bild auf der Leinwand und beendet den Vortrag vorzeitig.

Es scheint, als habe der Referent den Namen der Veranstaltung als Aufforderung verstanden, den Zuhörern die Zeit zu stehlen. Dabei geht es den Machern des Rip-It!-Festivals doch um Diebstähle ganz anderer Art. Die Aneignung und Wiederverwertung von Ideen und Materialien, die Collage, das Zitat und der Mash-up in der zeitgenössischen Video- und Musikkultur sollte von Donnerstag bis Samstag im Kreuzberger Club 103 im Zentrum der Betrachtung stehen. Als Untertitel für das Festival hatte man sich sogar einen schnittigen Imperativ ausgedacht: Reappropriate popular culture! Wandten sich Redner tatsächlich diesem Slogan, also den Besitzverhältnissen und Verwertungsmechanismen der Popkultur, zu, offenbarte sich meist eine schlichte Sicht der Dinge. Für Raubkopierer und Videoblogger sieht die Welt so aus: Da gibt es zum einen die Industrie. Die ist böse. Und es gibt die Szene, die Community. Die ist eine Art digitaler Puppenstube, in der es kuschelig zugeht. Dort sind die Guten zu Hause.

Die Referentin zum Thema „Videoblogging“ ließ es sich dann auch nicht nehmen, von einem „Demokratisierungsprozess“ im Internet zu sprechen, da die Produktions- und Distributionsmittel relativ einfach zugänglich seien. Dass die verwackelten Bildchen von Videohandys und Webcams, die man sich beim Internetportal YouTube in großer Zahl ansehen kann, den Anbeginn einer neuen, freiheitlichen Ära näher rücken lassen, ist eine steile These. Wenig erstaunlich, dass in der Euphorie über das Videoblogging als Journalismus für alle, als „Citizen Journalism“, wichtige Aspekte aus dem Blick gerieten. Denn längst hat die Industrie die Portale der Videoblogger als Werbeplattformen entdeckt und nutzbar gemacht. Doch die Erkenntnis, dass jede neue, scheinbar subversive Technik zugleich auch der Kulturindustrie einen neuen Verwertungsweg eröffnet, hätte die Welt, in der es hier die Bösen und dort die Guten gibt, wohl zum Einsturz gebracht. Dabei hatte das Festival auch zwei Zeuginnen zu einem Werkgespräch geladen, die anhand ihrer eigenen Karrieren die strukturellen Veränderungen zumindest im Geschäft mit den Musikvideos beschreiben konnten. Deborah Schamoni hat seit Mitte der Neunzigerjahre Clips für die Goldenen Zitronen und Chicks on Speed produziert. Doch nach zehn Jahren verspürt sie keine Lust mehr: „Die schrumpfenden Budgets lassen kleinen, idealistischen Produktionsfirmen keine Chance.“ Corine Stübi dreht seit zwei Jahren Musikvideos. „Haben sich früher fünf Firmen um einen Auftrag beworben, sind es heute 20“, beschreibt sie die gewachsene Konkurrenz. Sinkende Budgets, steigender Wettbewerb – für das klassische Musikfernsehen wird es enger. Die Plattenindustrie wendet sich dem Internet zu.

Eine große Zahl der dort kursierenden Musikvideos hat Christina Lange, die mit Julia Lazarus das Rip-It!-Festival organisiert hat, für die Ausstellung des Festivals gesammelt. Es handelt sich sowohl um offizielle Clips als auch um inoffizielle, die in Heimarbeit am Rechner hergestellt wurden. Gemeinsam ist ihnen allen das ästhetische Verfahren, die Collage. In ihrer Wirkung könnten sie nicht unterschiedlicher sein. Manche zusammen geschnittenen Zitate können nicht verhehlen, dass sie der reinen Erzeugung von Nostalgie dienen, wie etwa ein Clip der Retro-Rocker The Living Things. Andere schaffen es, über die Aneignung von klassischem Material sogar Ikonen zu dekonstruieren, wie etwa das Video zu „You ain’t nothing“ von Alec Empire, in dem Elvis Presley sowohl akustisch als auch visuell durch den Schredder gejagt wird. Doch spätestens seit 1986, seit dem Video zu Peter Gabriels Song „Sledgehammer“, ist die Collage im Musikvideo bestens eingeführt. Dessen ist sich auch Christina Lange bewusst: „Wir wollen die Aneignung und die Collage nicht als völlig neuen Trend vorstellen. Vielmehr wollen wir auf die neue Qualität hinweisen, die sich dadurch ergibt, dass jeder Besitzer eines Computers mittlerweile ein Video produzieren kann.“ Und vielleicht ist die Frage nach dem Neuen ohnehin müßig, wenn alles nur geklaut ist.

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