: „36 Grad, kein Ventilator“
STRAFE In einer Nähwerkstatt in Berlin arbeiten Frauen, um ihre Geldstrafe, die sie nicht bezahlen können, zu tilgen
VON ELISA HEIDENREICH
Wer neu ankommt, bügelt. Mindestens 14 Tage, sechs Stunden pro Tag. „Also wer das Bügeln hier erfunden hat, gehört bestraft“, sagt Maria L. Die 45-Jährige arbeitet ihre Geldstrafe ab im Projekt IsA-K, „Integration statt Ausgrenzung – Kleiderwerkstatt“, einer Einrichtung der AWO. Wenn sie zwei Wochen gebügelt hat, darf sie in die Nähwerkstatt wechseln.
Das Projekt der Arbeiterwohlfahrt gibt es seit mehr als zehn Jahren. Frauen, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, arbeiten dort für zwei karitative „Second-Hemd“-Läden. Mit dieser sogenannten Freien Arbeit, die unentgeltlich und gemeinnützig sein muss, entgehen die Frauen der „Ersatzfreiheitsstrafe“ im Knast. Diese müssten sie antreten, wenn sie nicht zahlen können oder wollen. Ein Tagessatz Geldstrafe entspricht einem Tag Arbeit.
Das Kleiderprojekt ist auf dem Gelände einer ehemaligen Mützenfabrik im Berliner Stadtteil Wedding. Nur Frauen arbeiten dort. IsA-K will so Frauen, „die Gewalterfahrungen mit Männern haben, einen geschützten Rahmen bieten“, sagt die Sozialarbeiterin Heike Hartmann. „Jede wird akzeptiert, wie sie ankommt, wenn sie bereit ist, sich an die Regeln zu halten.“ Selbst Drogenabhängigkeit sei kein Grund, jemanden abzulehnen.
Maria kommt morgens um neun Uhr und schließt ihre Handtasche bei der Sozialarbeiterin in einen Schrank. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen Diebstahl. Auch Bügeleisen werden nur gegen Unterschrift ausgehändigt. Aber für Maria ist die Bügelphase vorüber, sie näht.
Patchworkdecke
Im ersten der drei Räume liegen Haufen von gespendeter Kleidung auf einem Tisch. An den Wänden stapeln sich Stoffballen bis hoch zur Decke. Mehrere Frauen stehen um ein Plaid. Maria legt das Lineal an den bunten Stoff. Hinter ihr, neben dem riesigen Holztisch steht Regine Gottschalk, eine Ehrenamtliche, Teppichmesser in der Hand und beobachtet Maria, wie diese die Decke betrachtet. Zwanzig Quadrate, buntes Patchwork. Gottschalk hat ihre grauen Haare hochgesteckt, um den Hals baumelt ein Maßband.
Seit zehn Jahren hilft die gelernte Schneiderin, die längst im Ruhestand ist, in der Nähwerkstatt. Eine Frau entschuldigt sich bei ihr: „Die Maschine hat mich einfach nicht gemocht“, dabei deutet sie auf eine missglückte, krumme Naht. „Es liegt am Stoff. Warum haben Sie denn diesen Stoff gewählt?“, antwortet Gottschalk: „Nähmaschinen lehnen niemanden ab, Nähmaschinen haben keine Gefühle.“
Die meisten Frauen könnten nicht nähen, „die müssen fast alle bei null anfangen“, seufzt Gottschalk. Die Arbeit soll auch dazu dienen, neues Selbstvertrauen aufzubauen und zu stabilisieren. Dazu gehört, dass die Frauen etwas schaffen, auf das sie stolz sind. Für 90 Euro werden die Patchworkdecken im Internet zum Verkauf angeboten.
Zu Geldstrafen wurden die Frauen wegen Diebstahls, Betrugs, Beschaffungskriminalität oder Schwarzfahrens verurteilt wie Maria, die erzählt, dass sie mit ihrer 23-jährigen Tochter zusammenlebt. „Mehr als die Hälfte der Frauen sind wegen Schwarzfahrens bei uns. Die meisten sind arbeitslos“, sagt Andrea Klefke-Bieder, eine andere Sozialarbeiterin. Eine Strafe von 1.000 oder gar 2.000 Euro seien unbezahlbar für sie. Im Durchschnitt arbeiteten die Frauen drei bis vier Monate lang im Projekt, was 50 bis 100 Tagessätzen entspreche.
Im Eingangsbereich der Werkstätten steht Maria später vor mehreren großen Kleiderstangen. Sie hält eine Pistole in der Hand, mit der sie Preisschilder in die Kleidungsstücke schießt.
Vor einem blauen Eimer mit Wasser, einer trüben Brühe, sitzt Pauline F. und putzt Schuhe. „Ick musste mir entscheiden, ob ich Essen kaufe oder eine Fahrkarte“, erzählt sie und schmiert dabei braune Schuhcreme auf ein Paar Kinderschuhe. Die gespendeten Schuhe sollen wieder verkauft werden – gesäubert und poliert. „Soll ich noch 170 Paar Schuhe mitbringen?“, neckt eine andere Frau. „Nur, wenn es schöne Schuhe sind“, antwortet Pauline. Weil sie nicht zum ersten Mal wegen Schwarzfahrens angezeigt wurde, hat sie eine Strafe von 1.500 Euro bekommen. Zwei Monate wird die 28-jährige Gebäude-und Textilreinigerin dafür bei IsA-K arbeiten müssen.
Um zwölf ist eine halbe Stunde Pause. Pauline schnappt sich einen Gartenstuhl, geht in den Innenhof, der von einer hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer umgeben ist, und raucht. „Nee, dit is keen Knast“, sagt sie, „der Stacheldraht ist da, damit keener vom Parkplatz drüben hier einbricht.“
Arbeit sei sinnvoller als Knast, sagt Andrea Klefke-Bieder: „Inhaftierung verbessert die Situation der Frauen nicht und ist zugleich Bestrafung für ihre Familien. Kinder von Alleinerziehenden müssten eventuell fremd untergebracht werden, womöglich droht während der Haft der Verlust der Wohnung. Die Probleme, die hinter der Kriminalität stehen, werden dadurch nicht gelöst.“ Probleme wie Drogen, Schulden, Arbeitslosigkeit, Armut. Deshalb pflegt IsA-K den engen Kontakt zu sozialen Diensten und bietet Unterstützung an. Die Arbeit in der Werkstatt bricht für viele die soziale Isolation auf, in der sie sich wegen Arbeitslosigkeit und Straffälligkeit schon lange befinden. Die festen Arbeits- und Pausenzeiten strukturieren den Tagesablauf, die Regeln fordern Zuverlässigkeit und Zusammenarbeit. Für viele Frauen, die zu Isa-K kommen, ist das keine Selbstverständlichkeit mehr. Wer unentschuldigt zu spät kommt, riskiert Bügelwochen als Strafe.
Patchworkleben
„Es geht mir hier gut“, erzählt eine 54-jährige Serbin, die freiwillig beim Bügeln geblieben ist. „Wenn ich hier bin, vergesse ich meine Probleme, aber wenn ich nach Hause komme, sind die sofort wieder da.“
Pauline stellt die braunen Schuhe in eine Kiste, schnappt sich rote, gefütterte Stiefel und kratzt den Dreck mit einer Stricknadel aus dem Profil. Im Herbst möchte sie eine Ausbildung zur Modeschneiderin beginnen. Dass sie hier ihre Strafe abarbeitet, findet sie „ganz in Ordnung“. Aber es gefällt ihr nicht, nur unter Frauen zu sein. „Meistens war ich als Fensterputzerin allein unter Männern. Die Damen hier zicken mehr rum.“ Die Stimmung kann schnell umschlagen. Es arbeiten ständig neue Frauen in der Werkstatt, andere gehen, alle müssen lernen, miteinander auszukommen.
„Radio Teddy“ läuft in der Nähwerkstatt, Sommer ist, draußen sind 33 Grad im Schatten, bis zu vier Nähmaschinen surren gleichzeitig. Sechs Frauen arbeiten heute hier. „Bitte bügeln Sie das von links“, sagt Frau Gottschalk zu einer ehemaligen Köchin, die angefangen hat, bunte Stoffstreifen aneinanderzunähen. Die Frau gehorcht. Beim Nähen hat sie die Brille auf. Zwischendurch, wenn sie den Stoff dreht, schiebt sie sie nach oben auf den Kopf. 2raumwohnung singt: „36 Grad, kein Ventilator. Das Leben kommt mir gar nicht hart vor.“
Im Flur steht Maria und schießt weiter Preisschilder zu je vier Euro in T-Shirts, Blusen und Pullover. Hinter Maria, auf den weiß verputzten Mauern hängt ein bunter Wandbehang. „Früh begonnen, viel gewonnen“ ist darauf gestickt. Bald ist halb vier, Feierabend. Vorher putzen die Frauen die Werkstatt, die Küche und die Toiletten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen