: Umverteilung leicht gemacht
Mit sofortiger Wirkung hat Präsident Evo Morales den nationalen Erdgassektor verstaatlicht. Die Einnahmen sollen auch den Armen zugute kommen
AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER
Boliviens Kabinett hielt dicht. Bereits am vergangenen Donnerstag hatten sich Präsident Evo Morales und seine 15 MinisterInnen auf die bisher brisanteste Entscheidung ihrer 100-tägigen Regierungszeit verständigt: Eine Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorräte – Morales’ wichtigstes Wahlversprechen. Am Montag war es so weit: Überraschend landete Morales samt Kabinett auf der Erdgasförderanlage San Alberto. Um 12.33 Uhr Ortszeit gab der plastikbehelmte Präsident bekannt: Nun übernimmt der Staatsbetrieb YPFB (Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos) die Regie über die gesamte Produktionslinie von Erdöl und Erdgas. „Der Staat erlangt den Besitz und die volle Kontrolle dieser Ressourcen zurück“, rief Morales, „es ist vorbei mit der Ausplünderung durch die Multis.“ Dann wies er die Armee an, sämtliche 56 Förderanlagen des Landes zu besetzen.
Die im Energiesektor tätigen ausländischen Firmen werden nicht enteignet, doch innerhalb der kommenden sechs Monate müssen sie neue Verträge mit der Regierung aushandeln. YPFB wird bei allen Unternehmen Mehrheitseigner und setzt Produktionsmengen sowie die Preise für das In- und Ausland fest. Außerdem übernimmt das Staatsunternehmen mit sofortiger Wirkung die Weiterverarbeitung und den Vertrieb von Erdgas und Öl. Firmen, die nach dem Ablauf der 180-Tages-Frist die Regierungsvorgaben nicht akzeptieren, müssen das Land verlassen. Bis zur Unterzeichnung neuer Verträge müssten die Unternehmen 50 Prozent ihrer Einnahmen an den Staat abführen – bis Mitte 2005 waren es noch 18 Prozent.
Der wichtigste Abnehmer für bolivianisches Erdgas ist Brasilien. Entsprechend verschnupft waren dort die Reaktionen. Energieminister Silas Rondeau bezeichnete die Nationalisierung als „unfreundlichen Akt“. Brasiliens Staatsfirma Petrobras gehört zu den größten Investoren in Bolivien. Bei einer Gewinnbeteiligung von 18 Prozent würden sich neue Investitionen nicht mehr lohnen, sagte Petrobras-Chef José Sergio Gabrielli in New York.
Aus innenpolitischen Gründen könnte der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zu einer Gegenreaktion gezwungen werden, denn Petrobras gilt in Brasilien als nationales Symbol. Zuletzt war ihm schon mal wegen einer angeblich zu laschen Gangart gegenüber Bolivien „Landesverrat“ vorgeworfen worden. Dass Lula – bislang einer der wichtigsten Bündnisgenossen Morales’ in der Region – in den Coup eingeweiht war, ist unwahrscheinlich. Vielmehr hatte sich Morales mit Fidel Castro und dem venezuelischen Staatschef Hugo Chávez verbrüdert und einen „Handelsvertrag der Völker“ unterzeichnet.
Die bolivianische Regierungsstrategie orientiert sich klar am selbstbewussten Umgang von Chávez mit den Erdölmultis. Erst Ende März hatte der einen neuen juristischen Rahmen für die Erdölförderung durchgesetzt: 17 ausländische Firmen willigten ein, zusammen mit dem Staatsbetrieb PDVSA (Petróleos de Venezuela) „gemischte Unternehmen“ zu bilden, die die Verträge aus den Privatisierungsära der Neunzigerjahre ablösen. Die neuen Abkommen, bei denen der Staat mindestens die Hälfte der Bruttoeinkommen einstreicht, bedeuten nach Regierungsangaben zusätzliche Einnahmen in Milliardenhöhe. Schon jetzt finanziert Chávez mit dem Geldregen der Petrodollars umfangreiche Sozialprogramme.
Im Vergleich zu Petrobras oder PDVSA ist Boliviens YPFB ein Zwerg. Der korrupte Betrieb wurde von den Regierungen ab Mitte der 90er-Jahre finanziell und personell ausgeblutet. Von der Nationalisierung erhofft sich Morales im kommenden Jahr 780 Millionen Dollar – Geld, das über Investitionen im Sozialbereich ebenfalls vorwiegend den Armen zugute kommen soll.
Ob dieses Konzept aufgehen kann, hängt nicht nur von Brasilien ab, sondern auch von den Investoren aus Übersee. Und die geben sich skeptisch. „Wir haben das Verstaatlichungsdekret mit Sorge zur Kenntnis genommen“, sagte ein Sprecher der EU-Kommission gestern in Brüssel. Innenpolitisch sieht das anders aus. Der Streit über eine gerechte Verteilung der Ressourcen war der Treibstoff für die Volksbewegung, die Morales 2005 zu seinem Wahlsieg verhalf. Der nutzt jetzt seine hohe Popularität, um die Gratwanderung zwischen den hohen Erwartungen seiner WählerInnen und den Interessen ausländischer Investoren fortzusetzen.
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