: Vertrauensvorschuss
MUSIKKRITIK 5 Die Kritik ist tot, es lebe die Kritik – oder die „Spex“-Position, die das vielstimmige, kritische Autorenkollektiv entdeckt
■ Max Dax, 40, lebt und arbeitet als DJ, Fotograf und Publizist in Berlin. Seit Dezember 2006 Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex, Fotograf der Fotobücher „Napoli. La città e la musica“ (2005, mit Peter Cadera) und „Palermo. La città e la musica“ (2007, mit Peter Cadera). Autor der Sachbücher „30 Gespräche“ (2008, edition suhrkamp), „Nur was nicht ist ist möglich – Die Geschichte der Einstürzenden Neubauten“ (2005, mit Robert Defcon) und „The Life and Music of Nick Cave“ (2000, mit Johannes Beck). Produzent der CDs „La Musica della Mafia – Il Canto di Malavita“ (2000, mit Francesco Sbano und Peter Cadera) und „Songs From the Invisibile Republic – The Music That Influenced Bob Dylan“ (2007). Im Herbst erscheint im Merve Verlag sein erster Roman „Dissonanz – der schwarze Blog“.
■ Beiträge bisher: Wolfgang Frömberg (30. 3.), Jörg Sundermeier (9. 4.), Hannah Pilarczyk (16. 4.) und Nadja Geer (23. 4.)
VON MAX DAX
Fantastic Man: „Which art form will vanish?“ Gilbert & George: „Criticism.“
Warum nicht die provokante These des Londoner Künstlerduos auf die Popkritik projizieren? Wenn in Zeiten der Fragmentierung, der geöffneten Archive und der Allgegenwart von Meinungsäußerungen im Internet der Eindruck entsteht, dass Popkritiker als Leuchtturmwärter ausgedient haben, dann ist da etwas dran. Nicht zufällig ist es für die Leser von Printmedien ermüdend, heutzutage etwa noch Plattenrezensionen zu lesen – zu eitel und zu wenig analytisch ist das Gros der Texte.
Wenn man die ursächlich durch das Internet hervorgerufene Krise der Kritik jedoch als Lauf der Dinge und somit als Chance sieht, weil sich etwas ändert, und wenn man Gilberts & Georges Antwort auf die Frage, welche Kunstform verschwinden wird, zu einem „Die Kritik, wie wir sie kannten“ umformuliert – wir wären einen konstruktiven Schritt weitergekommen.
Binnen weniger Jahre veränderte sich die Medienbranche (und mit ihr die Kritiker) so radikal wie nie zuvor. Redaktionen wurden ausgedünnt, immer weniger junge Autoren hatten zuständige Redakteure, von denen sie etwas lernen konnten.
In Gratismagazinen wurde die Trennschärfe zwischen redaktionellem und gekauftem Inhalt verwischt, dadurch wurden ehedem undiskutierbare Demarkationslinien auch in Kiosktiteln infrage gestellt. Die schiere Masse an Veröffentlichungen wurde zuvor als „neue Unübersichtlichkeit“ bezeichnet, auch sie ist ein Problem, und schließlich darf der Gezeitenbruch nicht verschwiegen werden: Wozu noch eine Popkritik, wenn man sich „selbst ein Urteil bilden“ kann, indem man die Musik auf Last-FM, auf YouTube oder als Snippet bei Amazon ohne Umwege hören – oder gleich illegal runterladen kann?
Die Lösung des Dilemmas liegt in der Beantwortung genau dieser Frage. Dem arbiträren Musikhören (sprich: Miles Davis ist auf meiner Terabyte-Festplatte unter „M“ wie „Miles“ abgespeichert, aber nicht in unsichtbarer Verknüpfung mit Joe Zawinul, Herbie Hancock und Wayne Shorter als Erneuerer des Jazz) kann Popkritik mit der Vermittlung von Erkenntnis und dem Angebot von Verknüpfungen begegnen.
Anders als im Internet, das erkenntnisfixiert ist in lediglich dem Maße, wie der User es zulässt, ist die Kritik im Printmagazin für den Leser gefiltert und editiert. Nur: Wie kann der Vertrauensvorschuss, den Popkritiker benötigen, um als erkenntnisstiftende Instanz respektiert zu werden, wiederhergestellt werden?
Sie müssen thesenstarke Einordnungen des besprochenen Phänomens liefern. Es muss ihnen gelingen, das Objekt der Begierde, also im konkreten Falle: die Musik, vor dem inneren Auge der Leser aufleben zu lassen. Sie dürfen sich keiner wiederkehrenden Schemata bedienen. Sie müssen in kritischer, informierter Distanz zum verhandelten Diskurs stehen. Sie müssen Phänomene wie das der Postökonomie, der digitalen Evolution, der parallelen Entwicklungen in den verwandten Disziplinen kontextualisieren. Sie müssen in einer Sprache schreiben, die die Leser verstehen; und sich zurückzuhalten mit der Thematisierung der eigenen Sprecherpositionen, denn niemanden interessiert der Geschmack der Autoren.
In Spex haben wir mit dem „Pop Briefing“ den allwissenden Autor als Absender durch eine editierte, orchestrierte Vielstimmigkeit eines Autorenkollektivs ersetzt, das sich gegenseitig befruchtet, korrigiert und interessanterweise viel kritischer mit seinen Subjekten umgeht als die branchenübliche Kuschelkritik zuvor, in der die Kritiker, auch angesichts schlechter Bezahlung, oft den Weg des geringsten Widerstands wählten und über Platten schrieben, die sie ohnehin mochten.
Unsere Leser scheinen mit der Auflösung des Über-Autors weit weniger Probleme zu haben als die Autoren der vorangegangenen Folgen dieser Debatte zur Popkritik in der taz.
Diedrich Diederichsen, der dieser prismatischen Narration des Pop Briefings kritisch gegenübersteht und sich starke Autorenindividuen wünscht, welche die klassische Plattenkritik zu neuen Höhen führen, warb nach der ersten Ausgabe des Pop Briefings im Januar in der FAS für die Utopie einer popkulturellen Zeitschrift, die ähnlich wie der New Yorker die Vorteile von Print gegenüber dem Internet vereint: Sehr gut bezahlte Autoren schreiben sehr lange, sehr gut recherchierte Artikel. Leider entspricht das nicht der gesellschaftlichen und schon gar nicht der Medienrealität.
Seit der Gründung der Spex im September 1980 wurden Zeilenhonorare gezahlt, die im besten Falle (so der Fall heute) denen der taz entsprachen. Die Utopie Diederichsens kann in Spex (oder auch in der taz) nicht ohne weiteres realisiert werden. Gleiches Phänomen, andere Baustelle: Einer der diesjährigen Pulitzer-Preise ging an eine Stiftung, die ihre Autoren sehr gut bezahlt und deren sehr lange Texte von Medien wie der New York Times übernommen werden.
Bei Spex betrachten wir die Krise der Popkritik als Aufforderung, neue Textformate zu entwickeln und Debatten zu führen – die sowohl der gedruckten Zeitschrift als auch den Lesern neue Wege aufzeigen. Dann wird auch die Kritik als Kunstform nicht verschwinden. Sie wird sich nur etwas anders lesen.
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