: berliner szenen Männer im Frühling
Gefühl für Bücher
Der Frühling ist los. Knospen krachen, Vögel fiepen. Bienen summen in Mädchendekolletés und verursachen Schreikrämpfe. Tollwütige Großstädter gehen auf die Pirsch, umgarnen einander, andeutungsweise. Bloß nichts Falsches sagen! Dabei wissen alle ganz genau, dass es immer nur um das Eine geht.
„Willst du mit mir schlafen?“ Ein zirka zwanzigjähriger Junge mit unsympathischem Haarschnitt hangelt sich an den Haltestangen der U-Bahn von Frau zu Frau. Vermutlich alkoholbedingt macht ihm die Artikulation der kurzen Frage große Mühe. Es ist ja auch Freitagabend und schon fast dunkel. Ich presse mich tiefer in meine Sitzecke und kneife die Lippen zusammen, um nicht laut loszulachen. Der Jüngling hat nämlich seine Kumpels mitgebracht, die vorn im Wagen stehen und ihm aufmunternd zuprosten. „Du bist doch so ein Vollidiot!“, brüllt einer. Eine junge Frau lehnt dankend ab, eine andere versucht, zwischen den Seiten ihres Buches zu verschwinden. Gelingt ihr aber nicht: „Ey, lass das“, ruft sie empört, als der Jüngling nach ihrer Lektüre greift. „Tschuldigung“, lallt der, „ich wollte doch nur mal wissen, wie sich das anfühlt, so’n Buch!“
Nun muss ich doch lachen und erringe damit seine volle Aufmerksamkeit. Die Thor-Steinar-Jacke rutscht nach oben, als er sich – mit beiden Händen an der Stange über uns – vor mir in Position bringt. Dabei entblößt er einen haarigen Bauchnabel. Gleich fällt er auf mich drauf, denke ich schaudernd. „Willst du?“, fragt er. Es gibt Menschen, bei denen man sich die Antwort genau überlegen würde. Hier ist sie eindeutig: „Nee, du, lass mal!“ Er hakt nach: „So einen Mann wie mich kriegst du nie wieder.“ Hoffentlich, denke ich und muss zum Glück aussteigen. LEA STREISAND
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