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Nicht immer mehr, schneller, globaler!

FORDERUNG Nachhaltigkeit ist keine Angelegenheit individueller Lebensgestaltung – es ist die Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen für zukünftige Wohlstandsmodelle zu setzen

Die Autoren

■ Angelika Zahrnt ist Ökonomin und Ehrenvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Bis 2013 war sie Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung.

■ Uwe Schneidewind ist Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Von 2011 bis 2013 war er Mitglied der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestags.

■ Angelika Zahrnt und Uwe Schneidewind sind Autoren des neuen Buches: „Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik“. oekom, München 2013.

VON ANGELIKA ZAHRNT UND UWE SCHNEIDEWIND

Auch der Deutsche Bundestag hat erkannt: Jedes Wachstum hat Grenzen. Die Effizienzsteigerungen werden nicht ausreichen, um bei weiterem Wachstum die ökologischen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Wie aber lässt sich Wohlstand neu denken? So, dass soziale Probleme gelöst und die Menschen zufriedener werden?

Das sind die Fragen, die die in der vorigen Legislaturperiode eingesetzte Enquete-Kommission zum Thema Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität beantworten sollte. Endlich stellen wir uns – ganz offiziell an höchster Stelle – die Frage: Was macht ein gutes Leben aus? Dabei zeigt sich, wie wichtig Gesundheit, Bildung, Work-Life-Balance, soziale Integration, zivilgesellschaftliches Engagement und Umweltqualität für unser Wohlbefinden sind. Dass die bisherigen Leitbilder der Wachstumsgesellschaft – immer mehr, immer schneller, immer globaler, immer kommerzieller – nicht länger tragen. Dass wir ein rechtes Maß finden müssen: für Zeit und Raum, für Besitz und Markt.

Das ist der Beginn eines Paradigmenwechsels. Bislang wurde es ganz überwiegend als individuelle Angelegenheit angesehen, einen nachhaltigen Lebensstil zu finden. Nun erkennen wir, dass die Politik gefordert ist, Bedingungen für ein gutes Leben in globaler und generationenübergreifender Verantwortung zu verbessern.

Eine solche Politik der Ermöglichung kann an unterschiedlichen Punkten ansetzen. Sie muss erstens orientieren, indem sie immer wieder deutlich macht, dass gutes Leben jenseits einer Steigerungslogik möglich ist. Suffizienzpolitik kann zweitens unmittelbar gestalten, etwa in der Verkehrspolitik, wenn Fußgänger, Radfahrer und öffentliche Verkehrsmittel Vorrang haben, bei Investitionen und Ampelschaltungen. In der Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik, wenn die Massentierhaltungsanlagen durch strenge Vorschriften begrenzt werden und auf tierische Produkte statt des jetzt reduzierten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozent der reguläre von 19 Prozent angewendet würde.

Oder in der Wohnungsbaupolitik und der Stadtplanung, wenn statt ständiger weiterer Zersiedelung urbane Dichte mit grünen und blauen Wassernetzen verbunden werden, wenn Innenstädte weniger durch Kommerz und Werbung bestimmt sind als durch eine entspannte, einladende Atmosphäre mit vielfältiger Infrastruktur, von öffentlichen Büchereien und Bücherschränken und Bänken, bis zum neuen urban gardening und alten Schrebergärten.

Eine dritte Aufgabe von Suffizienzpolitik ist es, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, der nicht nur auf materielles Wachstum, sondern auf umfassenden Wohlstand zielt. Das umfasst eine Wettbewerbs- und Ordnungspolitik, die Gemeingüter schützt und sie der Kommerzialisierungs- und Privatisierungslogik entzieht sowie suffizienzfördernde Infrastrukturen und eine Verteilungspolitik, die das Maß an Ungleichheit in Gesellschaften in Grenzen hält.

Und viertens geht es darum, Fähigkeiten und Ressourcen für den Einzelnen zu schaffen, die Chancen für ein erfülltes Leben auch jenseits von materiellem Wachstum eröffnen. Welche Arbeitszeitregelungen brauche ich, um meine Balance zwischen Beruf, Familie, Ehrenamt und Freizeit hinzukriegen? Wie muss Bildung aussehen, die mit Alltagsfertigkeiten meine Autonomie stärkt und mit Beteiligungsfähigkeiten meine Möglichkeiten, mich gesellschaftlich und politisch zu engagieren? Wie muss ein Gesundheitswesen aussehen, das vorrangig am Gesundbleiben orientiert ist – und nicht am Wachstum des Gesundheitsmarktes? Darauf müssen wir unsere Arbeits-, Bildungs-, Gesundheits- und Verbraucherpolitik ausrichten.

Suffizienzpolitik ist nicht triste Verzichtspolitik. Es geht um eine Politik der Ermöglichung, um eine Politik des Wandels, die Räume schafft für andere Lebensstile. Suffizienzpolitik ist auch kein illegitimer Eingriff des Staates in die Freiheit der Bürger. Wer Tempo 50 in Städten mit schmalen Bürgersteigen und ohne Radwege zulässt, beeinträchtigt Fußgänger, Radfahrer und Anwohner.

Es ist naiv zu denken, die traditionelle Politik sei „freiheitlicher“, nur weil wir uns an ihre Einschränkungen gewöhnt haben. Ja, es stimmt, Suffizienzpolitik schafft neue Grenzen – aber sie eröffnet damit einen viel größeren Raum für kreative, glückliche und verantwortliche Lebensgestaltung.

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