: Junge Frau in Oslo, unbekümmert
GESANGSWETTBEWERB Lena Meyer-Landrut beim Eurovision Song Contest – eine Woche lockerer Anlauf in der norwegischen Hauptstadt
■ Margot Hielscher (1957 „Telefon, Telefon“, 1958 „Für zwei Groschen Musik“): Der persilgewaschene Post-Ufa-Star in der Rolle der Chanteuse mit Geschmack.
■ Conny Froboess (1962 „Zwei kleine Italiener“): Der vorsichtig durchamerikanisierte Frühbackfisch, betont kess und aufmüpfig.
■ Katja Ebstein (1970 „Wunder gibt es immer wieder“, 1971 „Diese Welt“, 1980 „Theater“): Die 68er-Freundin, cool, gedämpft leidenschaftlich, kritisch besorgt.
■ Mary Roos (1972 „Nur die Liebe lässt uns leben“, 1984 „Aufrecht geh’n“): Der Sprössling einer Weinschänke in der Rolle der Geknickten, Betrogenen, Hoffenden, Wiederaufstehenden – und stets im eigenen Kummer versunken.
■ Joy Fleming (1975 „Ein Lied kann eine Brücke sein“): Die deutsche Hausfrau ohne Usambaraveilchenallüren, sondern mit Neigung zur entgrenzten Meckerei.
■ Nicole (1982 „Ein bisschen Frieden“): Die junge Deutsche als Provinzlerin, die mit Linkem und Friedensbewegtem nichts zu tun haben wollte – im Appeal tüchtig und meisterinnenproperhaft.
■ Ingrid Peters (1986, „Über die Brücke geh’n“): Die Vertrauenslehrerin in der Rolle der enttäuschten Dauergeliebten – ein bekennendes Scheidungsopfer.
■ Maxi & Chris Garden (1988 „Lied für einen Freund“): Mutti und Tochter als deutsche Psychodyade ewiger Kontinuität – die Freundin der Tochter, die Freundin der Mutter, das männerentwöhnte Alleinerziehungsmodell schlechthin, hannelorekohlhaft.
■ Bianca Shomburg (1997 „Zeit“): Die mollige, löwenmähnige Frau als Finanzbeamtin, die keine Angst macht, weil sie defensiv im persönlichen Ausdruck bleibt – eine Kumpelin fürs Leben.
■ Michelle (2001 „Wer Liebe lebt“): Die Bitch, die sich international orientiert und doch innerlich stets eine Schwarzwälderin bleibt – Schusterin, bleib bei deinen Leisten, aber das im Glückskleid.
■ Corinna May (2002 „I Can’t Live Without Music“): Die Blinde in der Rolle der Nichtseherin, die Gospelaspirantin, die als Helden Martin Luther King und Joan Baez angibt.
■ Lou (2003 „Let’s Get Happy“): Die Schunkelsängerin, die sich auch mal Botox gönnt, aber mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt – mangels Alternativen.
■ Gracia (2005 „Run & Hide“): Die gestrauchelte Rockerbraut, die Frau, die aus ihren Träumen erwacht und lieber Sekretärin geblieben wäre.
■ Lena Meyer-Landrut (2010 „Satellite“): Die alleinerzogene Abiturientin, die es ins Mediale drängt und dort cool und selbstbestimmt bleibt, eine Emanzipierte, die sich um die Fantasien der anderen nicht schert, cool und aufrecht.
Deutschland hat beim ESC oft auf Hilfe von Migrantinnen aus dem Pop zurückgreifen müssen – mangels eigener Stars, etwa Wencke Myhre (1968), Siw Malmkvist (1969), Gitte Haenning (1973) und Ireen Sheer (1978). (JAF)
AUS OSLO JAN FEDDERSEN
Dann taucht sie plötzlich auf, auf dem Hotelflur, gibt jedem, der vor ihr verblüfft stehen bleibt – „Ist das wirklich Lena?“ – die Hand, sagt nicht ohne Grazie, vorsichtig, beinahe schüchtern, „Guten Tag“ und verschwindet in einem wirklich nicht sehr geräumigen Zimmer, um Interviews zu geben. Verliert sie wenigstens jetzt die Nerven? Dass sie sich einer Fragesituation aussetzen muss, die, schon räumlich, heftig eng ist. Aber sie lächelt. Sie sieht noch viel schmaler aus als im Fernsehen, sie hat, so sagt es ein Mensch vom Fernsehen, offenbar ihre Essgewohnheiten, ihren Körper überhaupt vollständig unter Kontrolle. Ihre Miene ist, recht besehen, noch bezaubernder, als man es aus inzwischen allen Medien kennt, und sie spricht auch im wahren Leben so, wie sie eben spricht: „Das Bild ist wunderschönst“, sagt sie über ein Foto für ihr erstes Album „My Cassette Player“.
Mittwochvormittag, vier Tage vor ihrem Auftritt beim 55. Eurovision Song Contest. Sie ist bislang nicht irre geworden an dem Druck, der doch irgendwie auf ihr lasten muss. Sie hat eben das Abitur geschafft, will, so gab sie einmal zu Protokoll, Schauspielerin werden. Und doch weiß man nicht so richtig, was sie eigentlich darstellt, denn am Ende wird man doch immer sie erkennen, eine Hannoveranerin, die ihren Eigensinn kultiviert. Und die mit Lust am Risiko, ohne die Mutter oder die beste Freundin im Gepäck, in Stefan Raabs Castingbox fährt und einfach eine Art Lautmalerei anbietet.
Lena Meyer-Landruts angemessen jugendlich-größenwahnsinnige Allüre, einfach mal zu gucken, ob das mit dem Starwerden klappen könnte, hat die Gutachter über diesen Urauftritt bei der Produktionsfirma Brainpool flachgelegt. Es muss „wunderschönst“ gewesen sein.
Lena Meyer-Landrut sagt gern solche Worte. Die stehen nicht im Wörterbuch, sind aus der Sekunde geboren und bilden insofern ein individuelles Lena-Vokabular. Alles über sie ist gesagt worden, seit Stefan Raab Anfang Februar, zum Auftakt des deutschen Eurovisionscastings „Unser Star für Oslo“ bemerkte, er sei von ihr „geflasht“, vom Blitz getroffen worden. Und das genießt sie, in keiner Sekunde wirkt sie in Oslo, soweit man das beurteilen kann, gestresst, genervt, zickig, verzweifelt, scheinruhig. Es ist wohl das, was sie wollte: ein Star, der Star des Jahres 2010 in Deutschland schon jetzt, zu werden.
Geburtstag in Oslo
Im Omnibus, der sie und ihre Entourage zum Rathaus von Oslo fährt, direkt auf den pinkfarbenen Teppich, über den sie schreiten soll, verteilt sie kleine Hütchen, bunt und kindergeburtstagsniedlich. Sie hat Geburtstag, 19 Jahre wird sie heute alt. Ihre Angehörigen sind angereist, aber das ist privat und kein Gegenstand von Fragen und Antworten. Was macht so ein Papphütchen auf dem Kopf? Lena sagt: „Dann bist du gleich gut drauf.“
Im Rathaussaal lässt sie sich mühelos durch Kameraleute in Ecken drängen, gibt Interviews, sagt Sätze wie „Es gefällt mir alles, wirklich alles hier“ und könnte wahrscheinlich auch die chemische Zutatenliste einer Fertigpizza vorlesen und erntete dafür immer noch die Zufriedenheit der Journalisten. Lena, Hauptsache Lena Meyer-Landrut, die heißeste Popware der deutschen Öffentlichkeit, die Helene Hegemann ohne Volksbühnenverschwurbeltheit, dafür aber mit magischer Begabung zur Performance.
Irgendwas muss doch an ihr Schmutziges sein. Auch diese Frage stellt man sich in Oslo, die Bild am Sonntag übernimmt den Job an der Heimatfront. Aber an Lena Meyer-Landrut perlt erstaunlicherweise alles ab. Schulangehörige, Verwandte, Nachbarn, Supermarktbekanntschaften aus Hannover – man schweigt, kaum dass ein Reporter des Boulevards auftaucht. Lena Meyer-Landrut, diese Übereinkunft gibt es nun auch in Oslo, soll rein bleiben, nicht auf das pornografoide Muster eines Dieter-Bohlen-Schützlings angepasst werden. Lena Meyer-Landrut ist das Alternativmodell für alle jungen Frauen, die sich den Bildern von Boxenludern und Promischlampen verweigern wollen. Schließlich kommt sie, Kind einer alleinerziehenden Mutter, aus mittelschichtigem Stall, hat Manieren, weiß sich zu benehmen.
Mediale Lumpenjäger
Nur die Bild-Zeitung musste neulich ihren Vater ausgraben, der seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr hat. Doch auch diese trübselige Recherche perlte offenbar an der Performerin ab. Kein Kommentar jedenfalls. Schließlich geht es nicht darum zu fragen, was ohnehin nicht Sinn der Sache ist. Und so ist ihre größte Leistung schon jetzt, sich die Lumpenjäger des Medienbetriebs vom Leib gehalten – und sich dennoch nicht aus der Welt zurückgezogen zu haben.
Der Sinn der Sache aber ist, Lena Meyer-Landrut weiter zu bestaunen. Dass sie in Oslo im Grunde ihre Abi-bestanden-Reise macht, dass sie die Gunst nutzen darf, nun nicht nur per Interrail unterwegs zu sein, dass sie so ein schönes, irgendwie gefaktes Englisch spricht. Dass sie als Sängerin über magere Oktavspielräume verfügt und doch jeden Ton trifft, dass sie eine junge Frau ist, die als Deutsche nicht diesen „typical German weltschmerzy sound“ bedient, über den sich einst Hildegard Knef so ermüdet erregte. Dass Lena Meyer-Landrut, kurzum, irgendwie den Anschein von ungeschminkter Natürlichkeit verbreitet – ohne wie ein gezähmtes Bambi daherzukommen.
Depressive Finnen
Ihr, die Alice im Wunderland des Unterhaltungsgewerbes, geht sogar die Neigung ab, instinktiv das Niederlagenhafte von sich fernzuhalten. Als sie im Eurovisionhotel am Osloer Hauptbahnhof eintrifft, muss sie durch das Foyer. Dort schleicht gerade ein Rudel Finnen auf dem Weg nach Hause, am Abend zuvor im ersten Halbfinale der Vorrunde des Grand Prix Eurovision ausgeschieden. Finnland – mal wieder an den Rand des Kontinents gedrängt, so kommentierte es die Delegationsleitung auf dem Rückweg gen Helsinki. Man sieht in depressive Gesichter, in verweinte Augen. Lena Meyer-Landrut sieht das nicht, hat keine Augen für das, was kommen mag.
Vielleicht nämlich gewinnt das Wesen mit der Nummer 22 am Samstag – gegen 22.37 Uhr am Start – gar nicht, wie das alle deutsche Welt von ihr erwartet. Vielleicht wird ihr erst am Samstag auf der Bühne klar, dass gerade 120 Millionen Leute in Europa und Israel live zusehen. Wird ihr „Satellite“ abstürzen? Wird sie sich genießen können? Dächte sie dann daran, dass nach jedem High ein Kater kommen wird, ein leichter oder ein schwerer, würde sie womöglich nervös werden.
In Oslo ist alles grün geworden, ein Frühling im höheren Norden. Die Temperaturen sind eher frisch bis kühl, verlässlich regnet es einmal am Tag. Vorjahressieger Alexander Rybak schätzt sie als Favoritin ein, sagt, wie er werde sie sich nicht verbiegen lassen und bleiben, was sie sein möchte. Das ist, alles in allem, das fetteste Lob, das sie sich verdienen konnte hier in Norwegens Hauptstadt, wo sie Deutschland von der Last befreien soll, dass eine Saarländerin namens Nicole Hohloch 1982 als bislang einzige Deutsche den Eurovision Song Contest gewinnen konnte – ihr „Ein bisschen Frieden“ war damals der schlimmste Hochverrat an der Idee der Friedensbewegung. Lena Meyer-Landrut kann da was richtigstellen: So bekennend provinziell ist ihr Land längst nicht mehr.
■ Jan Feddersen ist taz-Redakteur, beschäftigt sich seit 1989 mit dem Grand Prix und hat mehrere Bücher darüber geschrieben, zuletzt „Wunder gibt es immer wieder“ (Aufbau, 2010). Er bloggt und arbeitet frei für den Grand-Prix-Sender NDR.
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