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Modellbaukasten

Der beste Beruf der Welt, trotz der bedrängenden Düsternis der Welt: Wie ein Schriftsteller heute die Eindrücke der Wirklichkeit verarbeitet – einer Wirklichkeit, die aus dem Strudel des Lebens entsteht und aus den Bildern, die diesen Strudel wiedergeben

Ohne die explosive Kraft der Zeitgeschichte könnte es auch keinen lateinamerikanischen Roman geben

von SERGIO RAMÍREZ

Das Phänomen der Globalisierung bedeutet eine Schwindel erregende Integration der Märkte, hat jedoch auch einen neuen Kulturbegriff und eine neue Sicht darauf, was Information bedeutet, hervorgebracht. Heutzutage gibt es auf der Welt weder weite Entfernungen noch Nachrichten vom gestrigen Tag. Im 17. Jahrhundert feierte man die Krönung der spanischen Könige in den zentralamerikanischen Provinzen, wenn diese Könige längst gestorben oder wahnsinnig geworden waren. Jetzt nimmt uns die Macht der Bilder mit ihrer unmittelbaren Gegenwart gefangen; alle Dramen werden frei Haus geliefert, und alle Katastrophen dringen tagtäglich in unser Privatleben ein.

Auch im Kopf des Schriftstellers entstehen gleichzeitig Schauplätze mit derselben Unmittelbarkeit, und wir sind in mehr als einem Sinne Gefangene dieser Schauplätze. Den Eindrücken der Wirklichkeit kann ich nicht entfliehen. Ich werde immer nur einen Baukasten zum Zusammensetzen in der Hand haben, mit überraschenden Einzelteilen, die diese Wirklichkeit mir gibt – eine Wirklichkeit, die aus dem Strudel des Lebens entsteht und aus den Bildern, die diesen Strudel wiedergeben.

Mit großem Tamtam, wie großes Monumentalkino, werden ultramoderne Eroberungskriege um die Kontrolle über die Rohstoffe ausgestrahlt, wie der im Irak; wir hätten nie gedacht, dergleichen nach der Kolonialzeit noch einmal erleben zu müssen. Tief verwurzelter Fanatismus, rassischer und religiöser, nährt den Terrorismus, der alle Grenzen niedergerissen hat; Rassismus, in Europa wiedererstanden aus der Asche der Krematorien der Konzentrationslager.

Paramilitärische Killerbanden, deren Anführer sich vor den Fernsehkameras aufbauen und hochtrabende politische Reden halten, und alt gewordene Guerilleros, die zu Komplizen von Drogenhändlern geworden sind, wie in Kolumbien. Drogenhändler, deren Heldentaten in Volksliedern besungen werden, wie es im Norden Mexikos geschieht. Die Symbole sind vertauscht. Das Heldentum hat aufgehört, eine Eigenschaft des Guten zu sein, und sich in eine Grauzone zwischen Gut und Böse begeben.

Wer sich gerne Actionfilme aus Hollywood anschaut, weiß, dass es einen Rächer gibt, der am Ende mit seinem Schießeisen der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Im Namen von Recht und Gesetz taucht dieser Racheengel die Mattscheibe in Blut, und ehe er dem Verbrecher den Gnadenschuss gibt, verstümmelt und foltert er ihn und lässt ihn leiden, damit er seine Schuld büßen kann. Lustvoll erschauert da das Publikum; unsere Gerechtigkeitsliebe wird sadistisch. Doch wo geschieht dies alles, im wirklichen Leben oder in der Fiktion? Und wer tötet wen? Auf welcher Seite stehen eigentlich wir? Woran erkennt man die Helden?

Mehr und mehr werden Wahrheit und Fiktion vom selben Schauder geschüttelt oder fügen sich in dieselben Gewissheiten. Das, was tatsächlich in den Straßen von Rio de Janeiro geschieht, wo man die Stadt mit dem Schießeisen von bettelnden Kindern säubert, oder in denen von Ciudad Juárez, wo jeden Tag mindestens eine Frau ermordet und zuvor gefoltert und verstümmelt wird, und das, was in Tarantinos Filmen dargestellt wird, ist ein und dasselbe. Der natürliche Tod wird zur unrühmlichen Ausnahme. Ein Beispiel für eine solche Ausnahme ist die Geschichte von der Mutter, die ihrem Kind, das vor dem Fernseher hockt, mitteilt, dass sein Großvater gestorben sei. Worauf das Kind, ohne den Blick von der Mattscheibe zu heben, lediglich fragt: „Wer hat ihn denn umgebracht?“

Aber es gibt auch andere Bilder, die mich nicht loslassen. Das Bild eines Kindes in der Wüste Eritreas. Dort wird einmal ein absurder Krieg geführt, um einen Streifen Sand am Indischen Ozean. Während die äthiopische Armee vorrückt, wächst die Zahl der Flüchtlinge, die ihre spärliche Habe bei sich haben. Und das sterbende Kind bleibt zurück, weil seine Familie mit Sicherheit schon tot ist. Das ist der Augenblick, in dem der deutsche Fotograf sein Bild macht. Das ausgemergelte Kind auf dem Foto mit seiner welken Haut sieht aus wie ein Greis. Auch die Landschaft hat etwas von welker Haut, die Erde hart geworden von den endlosen Dürren, rissig wie ein Spinnennetz. Und neben dem Kind lauert aufmerksam, geduldig, ein Geier. Der Geier weiß, er muss bloß warten.

Hier verlässt die Gewalt die blutrot gefärbten Gewässer, um einzutauchen in ein anderes, noch grausigeres, hier geht es vom Krieg zum Elend, der furchtbaren Mutter aller Gewalt. Ehe das neue Jahrhundert noch begonnen hatte, lehrte man uns, die armen Länder müssten bloß warten. Die wundersamen Regeln des Marktes, so tönt die Philosophie, werden das Elend, das Ausgeschlossensein, die Rückständigkeit schon beheben. Warten, dass die Strukturreformen, die pünktliche Zahlung der Außenschuld, die Zerstörung der landwirtschaftlichen Produktionsstrukturen, der Ausverkauf aller Besitztümer des Staates an den Meistbietenden, die drastische Kürzung des Bildungs- und Gesundheitsetats sowie die Renten Überfluss und Wohlstand verschaffen.

Die strahlende Welt, die man auf dreihundert Fernsehkanälen bewundern kann, ist ungefähr genauso sehr zum Greifen nah wie die goldenen Früchte des Garten Edens. Man muss bloß die Hand ausstrecken. Computergesteuerte Autos, Hotels mit zwanzig Sternen, Diamant- und Platinkarten, um all die künstlichen Träume zu bezahlen, Ferienkreuzfahrten durch die blauen Wasser der Karibik auf zwanzigstöckigen Schiffen, Plasmabildschirme, die eine ganze Wand einnehmen und auf denen die Bilder immer wie bunte Ansichtskarten aussehen, spektakuläre Musikanlagen, die in den Häusern dröhnen. Für diejenigen, die sich, verführt vom Hedonismus der Zeit, etwas von diesem Paradies auf Raten kaufen können, wird die Verheißung des Glücks zur berauschenden Droge. Für den, der nichts hat, ist das alles nur das ferne Echo einer verführerischen Musik; so beginnt, zunächst mal in den Hirnen, der Exodus ins weit entfernte Gelobte Land. Auf die Seele hat diese endlose Litanei eine vernichtende Wirkung.

Eine halbe Million Afrikaner irren durch die Wüste und warten auf eine Gelegenheit, sich heimlich den Zäunen zu nähern, die in Ceuta und Melilla Afrika von Europa trennen, um irgendwann bei Nacht drüberzuklettern oder drunten durch zu schlüpfen und so das Herz der Finsternis verlassen zu können. Wie lange noch kann Europa Fußballstars aus Afrika haben und gleichzeitig die Lawine illegaler Einwanderer aufhalten, die sich hinter den Stacheldrahtzäunen sammeln, dort in ihren dunklen, fernen Ländern, die mittlerweile fast ausgelöscht sind von Hunger, Krankheiten und Dürre und nicht selten auch von Machtkämpfen und Stammeskriegen.

Seine geografischen Nachbarn kann sich keiner aussuchen, doch für Europa ist Afrika der Nachbar, der ihm am meisten Sorgen bereitet, für die USA ist und bleibt es Lateinamerika. Auch Millionen Lateinamerikaner haben sich aufgemacht ins Gelobte Land. „Wetbacks“, so genannte Nassrücken, die durch den Rio Grande zu schwimmen versuchen, die das Risiko auf sich nehmen, in der Wüste Arizonas zu verdursten oder zu verbrennen, in Eisenbahnwaggons zu ersticken oder in Kühlcontainern zu erfrieren.

Das unheilvollste Symbol des Kalten Krieges war die Berliner Mauer. Jetzt bauen die USA eine zweitausend Kilometer lange Mauer, um die abzuhalten, die sich nach dem amerikanischen Traum sehnen. Die neue Philosophie errichtet eine Mauer gegen die Nackten und Hungrigen. Und sie verkündet auch, dass die alten Regeln abgeschafft sind. Zuallererst der Anstand. Hemmungsloser Individualismus, der Bereicherung um jeden Preis rechtfertigt, lässt unter unseren Füßen den Abgrund des Unrechts, der Illegalität klaffen. Wenn wir uns bereichern wollen, dann gelten keine Regeln. Gewalt gegen Gewissen. Die Moral liegt in Schutt und Asche. Die schlimmste Gewalt, die man uns antut, ist die moralische Gewalt.

Und auch die Korruption ist mit von der Partie. Der deutlichste Ausdruck der ethischen Gewalt ist die Korruption, nicht als sporadische Tat einer Gruppe von Einzelpersonen, sondern als Verhalten, das das Gemeinwesen beschädigt und unter der Hand versucht, sich einen Freibrief im individuellen und kollektiven Bewusstsein zu verschaffen. Das ist der größte Schaden.

Doch neben der Gewalt gegen die Moral gibt es auch die Gewalt gegen die Demokratie. Der Autoritarismus ist eine Bedrohung, die unsere ganze Geschichte durchzieht. Und noch immer hören wir auch von dieser Gewalt jeden Tag in den Nachrichten. Institutionen, die nicht funktionieren, Angst davor, gerechte Gesetze zu machen und gerechte Urteile zu fällen. Und mit der Missachtung der Gesetze und der Verfassung geht eine Rhetorik einher, die Verlogenheit und mangelnde Transparenz im politischen Leben verdeckt.

Und eine Gewalt der Unwissenheit. Das Phänomen der Globalisierung erzwingt nicht nur eine Welt, die geteilt ist in solche, die haben und nicht haben, sondern, noch dramatischer, in solche, die wissen, und solche, die nicht wissen. Das Wissen zu beherrschen, Zugang zu den technologischen Schlüsseln der Entwicklung zu haben, diese Dinge sind es, die über Integration oder Ausgestoßensein entscheiden; und das Ausgestoßensein durch Unwissenheit führt zu noch größerer Armut. Ohne Bildung sehen wir den Fortschritt der Menschheit als Zuschauer, auf den Bildschirmen, die es immer geben wird, aber wir werden weder Handelnde noch Teilnehmer sein. So wird die Gewalt der Unwissenheit noch furchtbarer.

Immer wieder Abgründe. Wie vielleicht nirgendwo sonst auf dem Planeten haben wir Schriftsteller in Lateinamerika uns als Propheten unserer Zeit gesehen. Das mag arrogant erscheinen. Doch mindestens eine Rolle haben wir, die unausweichlich ist: Wir sind Zeugen, und als solche sind wir auch Chronisten. Die Zeitgeschichte liegt seit je im Wesen unseres Schreibens, und nie war es möglich, private Geschichten abseits von der großen Bühne der Zeitgeschichte zu erzählen.

Nie kann eine Geschichte, in der immer nur Ordnung und Frieden geherrscht haben, solche literarischen Stoffe hergeben wie die heutige Geschichte, die erfüllt ist von überraschenden Erschütterungen und sich ankündigenden Katastrophen. Darin liegt ein gewaltiges Paradox. Wie man über glückliche Liebespaare keine Liebesgeschichten erzählen kann, so könnte es ohne die explosive Kraft der Zeitgeschichte auch keinen lateinamerikanischen Roman geben.

Das große Epos ist schließlich nicht mehr als die Summe all der kleinen Epen, der Dramen, die vielleicht in den dunkelsten Ecken der Bühne aufgeführt werden, zwischen Elend und Korruption, aus dem Aufbruch aus den Trugbildern und dem perversen Epos des Drogenhandels und nicht zuletzt aus unserer sich ständig wiederholenden Vergangenheit. Und obwohl wir genau dieselben Bilder sehen wie gestern, überraschen diese Bilder uns doch immer wieder. Tyrannen und Caudillos. Marktschreier, die gefärbtes Wasser feilbieten als Elixier, das alle Übel heilen kann. Sie waren im Leben, in der Geschichte und im Roman. Das Rad dreht sich, und schon sind sie wieder da.

Wenn alles geprägt ist vom Zufall und den Überraschungen der Geschichte, von den Improvisationen des Schicksals und der Abnormalität der Ereignisse, dann wird es immer Geschichten zu erzählen geben. Als Schriftsteller bedrängt mich die Düsternis der Wirklichkeit, und doch habe ich den besten Beruf der Welt. Ich muss mir mein eigenes Modell bauen.

Aus dem Spanischen übersetzt von Lutz Kliche

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