: Zottelbart muss sein
JAHRESVORSCHAU Wie wird 2014 für Berlin? Was wird schöner? Welcher Stadtteil der neue In-Kiez? Und welche Hoffnungen sollten endlich mal begraben werden? Hier unsere subjektiv-seriöse Prognose
VON SONJA VOGEL
Liebe Berlinerinnen und Berliner, 2014 wird das Jahr Berlins! BER eröffnet! Zentral- und Landesbibliothek wird neu gebaut! Und Robbie Williams kommt mit Take That! Ai Weiwei macht Kunst und nicht Dissidenz! Und der Kulturetat wird verdoppelt! Die Bar 25 feiert Wiedereröffnung! – Naja, man wird zum Jahreswechsel ja wohl ein wenig träumen dürfen, das kommende Jahr soll schließlich besser werden als das vergangene.
Das war für viele wie für Berlin: nicht toll, aber auch nicht so schlecht. Was ist schon passiert? Miniskandale: Da hat sich die Kulturkneipe Freies Neukölln, einst Vorhut der Gentrifizierung, aus Protest gegen deren Folgen aus dem Kiez zurückgezogen und einen Wasserglassturm der Entrüstung ausgelöst. Die Betreiber gehen nun nach Französisch-Buchholz. Stopp. Wohin? Echt? Da braucht es sicher eine Bierbar mit Bärlauchpesto!
Wie gesagt, 2014 wird da ganz anders werden, besser, schöner. Bärlauchpesto für alle, nicht nur für Buchholz! Und bessere Partys, gigantischere Konzerte, fettere Events. Vormerken sollten wir uns auf alle Fälle die Baustellenparty auf dem Areal des ausgebrannten Festsaal Kreuzberg. Im Moment liegt das gute Stück zwar noch am Boden und stinkt vor sich hin, aber sehr bald wird es sich wie Phoenix aus der Asche erheben.
Gut, am 22. Februar steht erst mal das Soli-Konzert mit Jens Rachuts’ Exband Oma Hans an, die für diesen guten Zweck noch ein einziges Mal zusammenfinden wird. Aber danach, da kommt die Baustellenparty!
Dann kann man sich die Post-Fashion Week im Kalender ankreuzen: Einmal im Jahr darf man in den U-Bahnen hemmungslos über die Klamotten der Anderen lästern, denn vom 14. bis 16. Januar ist wieder Bread & Butter, Messe für Urbanwear – und da darf jedeR gucken. Und apropos, Hobby-Voyeurinnen wie ich dürften sich auch schon sehr auf den Berliner Ironman (1,9 km Schwimmen, 90 km Rad, 21 km Laufen) im Juni freuen, wenn die Eisenharten die Spree zweiteilen – während wir uns am Ufer lecker Torte reinschieben. Dann die Berlinale: Da werden sich die Gemüter über Lars von Triers halben Porno erhitzen – die zweite Hälfte wird später nachgereicht. Und – meint es der Gott des Pop-Universums vielleicht doch einmal gut mit Berlin? – Justin Timberlake kehrt im April zurück nach Berlin mit seiner „The 20/20 Experience World Tour“!
Unrat und Armut
Und da die Stadt eine gigantische Umwälzpumpe ist, die frische BerlinerInnen von Innen- in die Außenbezirke umlagern und die Alteingesessenen von da irgendwo anders hin, wird ein neuer In-Kiez geboren: Britz vielleicht – oder Tempelhof.
Zuerst kommen die Galerien, die Keller-Bar-Partys usw. Dann wird ein Sammelband mit Lesebändchen erscheinen: Zugezogene berichten ein bisschen poetisch und ein bisschen sozialkritisch, wie ihnen der neue Kiez so fremd erscheint, wie sie Unrat und Armut der anderen überrascht, und dass es am Kiosk keine Club-Mate hat. Auch wir werden das Buch in die Hand nehmen und unseren Umzug vorbereiten.
Gespannt sein darf man auf das neue LCB. Das Literarische Colloquium Berlin bekommt zum neuen Jahr einen neuen Leiter: Florian Höllerer, der wiederum Sohn von Walter Höllerer ist, der das LCB 1963 gegründet hatte. Der Überverlegerdichter Michael Krüger hat ja beim LCB-Geburtstag im Sommer die gesamte Literatur für tot erklärt. Wie wird Höllerer jun. sie wiederauferstehen lassen?
Rückwärtsgewandte Feierlichkeiten stehen auch an, der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wird begangen. Das bedeutet: Krieg auf allen Kanälen. Womit wir schon bei dem wären, was man im kommenden Berliner Kalt-Jahr vermeiden sollte – einen Weltkrieg, klar, aber auch: auf den Sommer zu hoffen. Gebt es endlich auf, Leute! Wer sich Sonnenschein über mehrere Tage wünscht und Wärme, die nicht vom Einweggrill im Park kommt, der und die geht gefälligst ins Sommerexil. Nach Bayern. Vielleicht nach Hamburg. Oder ab in die Provence! Tschüssikowski. Ansonsten: bitte nicht über das immer Gleiche meckern. Absehbar ist auch, dass noch mehr Clubs schließen und die verbliebenen sich langsam zu Tempeln der Hochkultur mausern (wird das Berghain nicht um eine Kunsthalle erweitert?) oder einem Möhrchengarten mit Ökodorfidyll Platz machen müssen.
Einfach ignorieren sollten wir auch die Debatte um die Entwürfe zu Klaus Wowereits neuem Prestigeobjekt, des Neubaus der Zentral- und Landesbibliothek auf dem Tempelhofer Feld. Bringt nichts. Die Pläne werden doch sowieso durch die Unterschriftensammlung gegen die Bebauung und den kommenden Volksentscheid gekippt.
Und vor allem: Unter keinen Umständen sollte man im künftigen Jahr den Versprechen des Berliner Kulturstaatssekretärs André Schmitz auf den Leim gehen. Dessen runde Hornbrille ist zwar richtig hipstermäßig – doch solange er sich keinen Zottelbart stehen lässt, ist er keiner von uns.
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