: Wo Karl Marx raucht
CHEMNITZ Ein Besuch des einstigen Karl-Marx-Stadt ist ein Ausflug in den sozialistischen Städtebau, aber auch eine Begegnung mit Kriegszerstörung, der Industrialisierungsgeschichte Deutschlands und alten Luxuslimousinen
■ Das Sächsische Industriemuseum in der alten Gießerei ist Teil der Europäischen Route der Industriekultur: www.saechsisches-industriemuseum.de
■ Europäische Route der Industriekultur: 850 Standorte in 32 europäischen Ländern werden vorgestellt. Alle Standorte sind 10 Europäischen Themenrouten zugeordnet. www.erih.net/de/
■ Garagenhof: Eines der ersten Parkhäuser in Deutschland präsentiert im Erdgeschoss Oldtimer von Wanderer, Horch und DKW. www.fahrzeugmuseum-chemnitz.de
■ August-Horch-Museum: In Zwickau präsentiert der Autokonzern Audi wunderschöne Oldtimer und Klassiker in ihrer Zeitgeschichte. www.horch-museum.de
■ Sächsisches Eisenbahnmuseum: In Chemnitz wächst der Zugverkehr um die Jahrhundertwende so stark an, dass Personen- und Güterverkehr getrennt werden müssen. Einer der größten Rangierbahnhöfe Deutschlands entsteht. Das Bahnbetriebswerk für Güterzuglokomotiven beherbergt heute das Sächsische Eisenbahnmuseum. www.sem-chemnitz.de
■ Villa Esche: Die von dem belgischen Künstler Henry van de Velde entworfene Villa Esche ist ein wunderschönes Jugendstilensemble. www.villaesche.de
■ Tage der Industriekultur: Vom 10. bis 12. Sptember finden die Tage der Industriekultur mit Ausstellungen und Umzügen statt. www.industriekultur-chemnitz.de
VON EDITH KRESTA
Der riesige Kopf von Karl Marx steht im Zentrum von Chemnitz. Er ist das Wahrzeichen der Stadt. Und das ist gut so. Denn die einstige Industriestadt wirkt heute wie das Modell einer sozialistischen Stadt. Die historische Innenstadt wurde durch die Bombardierung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs beinahe vollständig zerstört. Auf den Trümmern entstand eine neue Stadt mit großzügigem, zugigem Straßennetz, mit Plattenbauten und aufgelassenen Industrieanlagen. Mittendrin thront himmelhoch das heutige Mercure-Hotel, einstmals das Interhotel.
Heute ist Karl Marx Werbeträger dieser postsozialistischen Stadt. Immerhin hieß Chemnitz bis vor zwanzig Jahren Karl-Marx-Stadt (1953 bis 1990). Karl- Marx-Sticks, Karl-Marx-Schlüsselanhänger und eine Karl-Marx-Büste als Räuchermännchen – eine Referenz ans Kunsthandwerk des nahe gelegen Erzgebirges – können die Besucher heute als Souvenir erwerben.
„Die sogenannte Schädelstätte – eine sieben Meter hohe Plastik, die den Kopf von Karl Marx stilisiert darstellt – soll die größte Porträtbüste der Welt sein“, sagt Susan Endler, unsere Stadtführerin. Auf dem Gebäude dahinter – einst Sitz der SED-Bezirksleitung – prangt der Schriftzug „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ auf Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Russisch.
Ein Motto mit Zukunft? „Der Stimmenanteil der Linken liegt in Chemnitz bei 22 Prozent, damit haben sie mehr Wähler als alle anderen Parteien“, weiß Endler. Die Szenerie vor dem Bahnhof wirkt weniger proletarisch als prekär: Die letzen Punks und Schnürstiefelträger trinken hier öffentlich grölend Bier. Im neuen Zentrum trägt fast jede dritte vorbeiflanierende Frau kräftige rote, lila oder blaue Strähnen in Pony oder Seitenhaar. Ein generationsübergreifender Trend. Eine Referenz an die 80er Jahre?
Chemnitz – Stadt der Moderne? Zumindest wirbt das City-Management damit. Und macht den historischen Rundschlag vom sächsischen Manchester bis heute. Chemnitz war eine der wichtigsten Industriestädte Deutschlands. Ausgangspunkt der industriellen Revolution in Sachsen. Standort der deutschen Kraftfahrzeugindustrie. Die Einwohnerzahl der Stadt überschritt Anfang 1883 die Grenze von 100.000. 1930 hatte die Stadt bereits 360.000 Einwohner. In Chemnitz saßen Firmen mit Weltruf wie die Wanderer Werke AG, später Teil der Auto Union oder August Horch mit seinen Luxuslimousinen. Hitlers Autobahn wurde dicht an der Stadt vorbeigeführt.
Dirk Schmerschneider zeigt uns wertvolle Oldtimer aus dieser Zeit im Stern-Garagenhof. Diese Hochgarage wurde 1928 als eines der ersten Parkhäuser in Deutschland errichtet. Heute ist dort im zweiten Stock ein Möbelhaus, im Erdgeschoss stehen dicht gedrängt stattliche Oldtimer. „Früher wurden hier die Luxuslimousinen von Horch und Wanderer, die Mittelklassewagen und Motorräder von DKW mit Aufzügen auf die sechs Stockwerke verteilt“, erzählt Dirk Schmerschneider vor dem großen, alten Aufzug. Er führt uns zu einem flotten silbergrauen Zweisitzer. „Das Püppchen – so heißt der Wagen – wurde zur Uraufführung von ‚Püppchen, du bist mein Augenstern‘ auf die Bühne gefahren“, weiß Schmerschneider.
Im Garagenhof stehen neben blitzenden Limousinen, Sportwagen und Motorrädern mit Beiwagen auch die merkwürdigsten Fahrräder. „Ab 1886 hat der Fahrradbau Tradition in und um Chemnitz“, sagt Schmerschneider. Eine Sonderausstellung zeigt Sportmodelle der Wanderer 5,7 PS, ein Motorrad, „von dem nur noch zwei Maschinen existieren sollen. Und mit dem W25K wird ein Auto präsentiert, das der schönste Sportwagen der 30er Jahre sein soll“, steigert sich Dirk Schmerschneider, der selbst passionierter Motorradfahrer ist. Für Technikfreaks und Oldtimer-Fans ist das Museum ein Muss. „Auch wenn alles sehr eng gestellt ist und damit nicht so richtig zur Wirkung kommt“, bemängelt Schmerschneider. Für die, die Oldtimer und die Geschichte der Autoindustrie „schön gestylt“ sehen wollen, empfiehlt er das Audi-Museum im nahen Zwickau. „Ein Genuss“, sagt er völlig konkurrenzfrei.
Chemnitz war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die reichste Stadt Deutschlands. Hier entstand 1987 das deutsche Patentrecht: Aus Chemnitz kamen zu dieser Zeit sechsmal mehr Patente als im deutschen Durchschnitt; hier wurde der Grundstein des deutschen Maschinenbaus gelegt.
„Vor allem die modernen Chemnitzer Maschinen von Johann von Zimmermann waren es, die zur Einführung des Gütezeichens ‚Made in Germany‘ in England führten“, sagt Achim Dresler, der stellvertretende Direktor des aufwändig restaurierten Industriemuseums von Chemnitz. Die großen Ausstellungshallen, heute Industriedenkmale, waren einst Produktionsstätten für Gießerei und Maschinenbau. Im Zusammenspiel mit multimedialen Bild- und Textinformationen erzählt Dresler ein Stück Industriegeschichte: Wie frästen die Arbeiter früher Zahnräder, und wie geht das heute? Wie kleidete man sich im vergangenen Jahrhundert, und wie wurden die in den „Goldenen Zwanzigern“ beliebten fein gewirkten Damenhandschuhe hergestellt? Wer erfand den Kaffeefilter, und wer das Dachzelt auf dem Trabant?
Viele Exponate werden in ihrer Funktion vorgeführt. Dazu gehören Werkzeug-, Textil- und Büromaschinen ebenso wie Spiel- und Sportgeräte. An einzelnen Stationen können die Besucher probieren. Auch hier nimmt die Tradition des sächsischen Motoren- und Fahrzeugbaus großen Raum ein. Zu sehen sind neben klassischen Verbrennungsmotoren Beispiele für alternative Antriebe und Kraftstoffe. „In Chemnitz wurden damals die Motoren für die Panzerkampfwagen VI Tiger gebaut“, sagt Dresler. „Die Stadt wurde so zur Zielscheibe: Die Alliierten warfen 7.360 Tonnen Bomben.“
Industriearchitektur zieht sich wie ein roter Faden durch Chemnitz. Viele der eindrucksvollen Fabrikbauten wurden revitalisiert: ob Schönherrfabrik, Janssenfabrik, Strumpfwarenfabrik Esche, Weberei Cammann, Maschinenfabrik Schubert & Salzer, Bernhardsche Spinnerei oder Tafelgerätefabrik Sonnenschein – sie alle beherbergen nun Wohn- und Geschäftsräume, Gastronomie, medizinische oder Freizeiteinrichtungen.
Die Altbausubstanz der Gründerzeit, die noch in den Vierteln Kaßberg, Sonnenberg und Schloss Chemnitz besteht, wurde aus ideologischen Gründen zu DDR-Zeiten vernachlässigt. Sie verfiel. Heute sind diese Gegenden wieder als Wohnviertel beliebt, vor allem Kaßberg, eines der größten, noch erhaltenen Jugendstil- und Gründerzeitviertel Europas.
Wo Industriekultur ist, darf auch das Großbürgertum nicht fehlen. Und das hatte viel Klasse. Zumindest was die Villa Esche betrifft. Sie wurde vom Türknauf über die Sitzecke bis zur Schürze der Hausdame vom belgischen Künstler Henry van de Velde entworfen. Ein ästhetischer Genuss. Speisezimmer und Musiksalon im Erdgeschoss sind fast original möbliert. Eine Dauerausstellung im Obergeschoss zeigt Werke des Künstlers, der, wie der alte Marx auf seinem Sockel, eine Epoche dieser Stadt repräsentiert. Eine Stadt, die mit neu gestylten, alten Industriebauten, mit Chrom, Stahl, Glas und den Stararchitekten des neuen Zentrums fast in der postmodernen Dienstleistungsgesellschaft angekommen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen