: Kampf für die Meinungsfreiheit
In der Türkei protestieren 400 Intellektuelle gegen die Einschränkung von Bürgerrechten. Der Anlass: eine Verurteilung wegen Beleidigung des Türkentums
ISTANBUL taz ■ Allen schlechten Nachrichten über die Rückschritte im Demokratisierungsprozess der Türkei zum Trotz – die Zivilgesellschaft lebt. Mit einer großen Anzeigenkampagne in mehreren landesweiten Zeitungen haben jetzt vierhundert Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsaktivisten gegen die derzeit stattfindende erneute Einschränkung der Meinungsfreiheit protestiert. Sie fordern vor allem die Abschaffung des berüchtigten Artikels 301 des Strafgesetzbuchs. Dieser macht unter anderem die Beleidigung des Türkentums zum Straftatbestand und diente bereits für etliche Verfahren gegen kritische Journalisten und Schriftsteller als Vorwand.
Die Unterschriftenliste, darunter auch die bekanntesten Autoren des Landes Orhan Pamuk und Yasar Kemal, liest sich wie das Who is who der linksliberalen Intelligenz der Türkei. Unmittelbarer Anlass ist ein Urteil gegen Hrant Dink, den Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos. Mit dem Urteil hat vor wenigen Tagen ein Berufungsgericht in letzter Instanz eine Verurteilung Dinks wegen Beleidigung des Türkentums bestätigt und Dink damit zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Hrant Dink, ein Veteran der Linken in der Türkei, ist damit endgültig zu einer Symbolfigur im Kampf für die Meinungsfreiheit geworden. Als armenischstämmiger Türke beteiligt er sich bereits seit Jahren engagiert und an vorderster Front an der Debatte um die historische Einordnung der Ermordung und Vertreibung eines großen Teils der Armenier in der Endphase des Osmanischen Reichs. Dabei hat Dink jedoch immer wieder versucht, die Mehrheit der Bevölkerung erst einmal für das Thema zu sensibilisieren, anstatt nur mit Schuldzuweisungen die Konfrontation zu suchen.
Die nationalistische Rechte hat ihm diese Haltung nie gedankt, sondern ihn stattdessen seit Jahren hasserfüllt verfolgt. So hat der Anführer einer faschistischen Juristenvereinigung bereits wieder eine neue Strafanzeige gegen Dink gestellt, weil er in einem Interview von Völkermord gesprochen hatte.
Auf der anderen Seite haben sich eben auch gerade im Fall von Hrant Dink große Solidaritätskampagnen entwickelt. Als Dink nach dem Urteil in erster Instanz wütend ankündigte, wenn das Urteil Bestand hätte, würde er das Land verlassen, wurde er von etlichen Kommentatoren öffentlich zum Bleiben aufgefordert – nicht zuletzt, um der Rechten zu zeigen, dass sie Andersdenkende nicht einfach verjagen kann.
Seit zu Beginn des vergangenen Jahres das neue Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist, häufen sich allerdings die Prozesse gegen Journalisten und Schriftsteller. Zwar werden die meisten Prozesse, wie ja auch im Falle von Orhan Pamuk, entweder eingestellt oder sie enden mit einem Freispruch. Dessen ungeachtet wird jedoch eine offene Diskussion, vor allem über die Armenierfrage, aber auch in Sachen Kurdenpolitik durch die Flut der Klagen derzeit mehr und mehr verhindert.
Mit dem in der vergangenen Woche verabschiedeten neuen Antiterrorgesetz wird sich der Roll Back weiter verschärfen. Jede Kritik am Militär kann von willfährigen Gerichten jetzt wieder als Unterstützung für eine terroristische Vereinigung ausgelegt werden. Auch wenn die Zivilgesellschaft sich nicht einschüchtern lässt: Angesichts ständiger Fernsehbilder, die von der PKK „ermordete“ Soldaten zeigen sowie Diskussionen über einen Einmarsch im Nordirak, werden es kritische Stimmen in der nächsten Zeit wohl immer schwerer haben.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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