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Kein Platz für Obdachlose

Auch wenn am Hauptbahnhof eine Bahnhofsmission eröffnet hat: Für Obdachlose ist der Glaspalast auch zwei Monate nach seiner Inbetriebnahme kein Ort des Ankommens. Die meisten bleiben deshalb, wo sie waren – am Bahnhof Zoo

Die Mittagshitze verstärkt den beißenden Uringestank in der Jebensstraße hinter dem Bahnhof Zoo. Auf dem Bürgersteig hat sich eine lange Schlange gebildet. Überwiegend Männer, einige davon mit Plastiktüten und in abgewetzter Kleidung, warten geduldig. Am Fenster neben der Schlange hängen Briefumschläge, die ein Mann von außen begutachtet. Vielleicht ist ja Post für ihn darunter. Wie viele andere, die hier vor der Bahnhofsmission stehen, hat er keine Adresse. Der kleine Mann um die 40 ist gekommen, um etwas zu essen und ein neues T-Shirt abzuholen. Aus dem Inneren des Gebäudes riecht es stark nach Bananen. Von denen ist heute ein besonders großes Paket eingetroffen.

„Die Schlange vor der Bahnhofsmission am Zoo wird durch den neuen Hauptbahnhof nicht kürzer. Die armen Menschen sind immer noch hier“, sagt Holger Planck. Er sitzt in einem kleinen Wohnwagen gegenüber der Bahnhofsmission neben einem Stapel Zeitungen. Es sind Ausgaben des neuen „Straßenfegers“, die er an Obdachlose verteilt, damit die sie weiterverkaufen. „Das Einzige, was sich durch den neuen Bahnhof verändert hat, ist, dass unsere Verkäufer längere Wege gehen müssen, um ihre Zeitungen loszuwerden“, fügt der 32-Jährige hinzu.

Am neuen Hauptbahnhof, der wenige Kilometer östlich vom Zoo liegt und vor zwei Monaten eröffnet wurde, ist auch eine Bahnhofsmission eingerichtet worden. Dort geht es aber ganz anders zu als in der Bahnhofsmission am Zoo, die vor über hundert Jahren gegründet wurde. Statt eines undefinierbaren Gemischs unterschiedlicher Gerüche wie am Zoo, neutralisiert hier die Klimaanlage alle Ausdünstungen. Die Tische stehen wohl geordnet, jeden ziert eine kleine Vase mit einer gelben Blume. Durch die großen Fenster blickt man auf das Brachland an den Spreeufern.

„Hierher verirrt sich kaum ein Obdachloser“, sagt die Leiterin der Bahnhofsmission, Janina Jonitz. „Wenn einer vorbeischaut, dann ist es aus Neugierde, wie unsere neuen Räume aussehen. Oder es ist jemand, der aus einer anderen Stadt kommt und neu in Berlin ist“, meint sie. An dem nagelneuen Standort gibt es keine Essensausgabe und auch keine Übernachtungsmöglichkeit. Hier werden weniger Obdachlose betreut, so die 48-Jährige, sondern vor allem Reisende.

Vor einigen Monaten hatte man in der Redaktion des Straßenfegers überlegt, die Verteilstelle vom Zoo an den Hauptbahnhof zu verlegen, berichtet Vertriebsmitarbeiter Planck. Doch man habe sich dagegen entschieden: „Der Hauptbahnhof ist nur eine Durchgangsstation. Dort ist kein Leben.“

Stattdessen drängt sich den Besuchern das Gefühl auf, in einer futuristisch anmutenden, kapitalistischen Utopiewelt gelandet zu sein. Die gleichmäßig sich bewegenden Rolltreppen tragen zur modernen Kaufhausatmosphäre bei, die durch die vielen Geschäfte auf mehreren Etagen entsteht.

Für Armut ist hier kein Platz. Im neuen Hauptbahnhof haben laut Planck die Straßenfeger-Verkäufer Hausverbot: „Wenn sie es doch versuchen, kriegen sie sofort eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs.“ Ein Verkäufer bestätigt das. „Hier darf man gar nichts. Man braucht nur kurz in ein Mülleimer zu gucken und schon kommt die Polizei“, beschwert sich der junge Mann, der ein verwaschenes blaues Käppi mit dem Schirm im Nacken trägt und wie alle anderen Verkäufer seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er ist gerade am Hauptbahnhof aus der S-Bahn ausgestiegen – aber nur, um auf dem Gleis gegenüber in die nächste zu steigen und dort sein Glück beim Zeitungsverkauf zu versuchen.

Am Bahnhof Zoo versucht derweil ein grauhaariger Mann, an ein Grüppchen amerikanischer Touristen Briefmarken und Postkarten zu verkaufen. Sie sind mit WM-Motiven bedruckt. Der Mann, der sich als „der kleine Bernd von Tempelhof“ ausgibt, ist deprimiert über das geringe Interesse an seiner Ware. „Vielleicht hätte ich mehr Erfolg, wenn Deutschland Weltmeister geworden wäre“, sagt er. Ohnehin seien hier wenig Touristen, seit die ICEs nicht mehr am Bahnhof Zoo hielten. „Vielleicht sind sie jetzt eher am Alex oder am neuen Hauptbahnhof“, meint er. Doch da darf er mit seinem Bauchladen nicht rein.

Zwar seien am alten West-Bahnhof nun weniger Menschen unterwegs als früher, „aber so lange die Gedächtniskirche nicht abgerissen wird, besteht noch Hoffnung für den Zoo“, sagt Holger Planck vom Straßenfeger. „Und außerdem“, fügt er hinzu, „‚Wir Kinder vom Hauptbahnhof‘ – das klingt doch nach nichts.“ Die Szene von Obdachlosen, Drogenabhängigen und Prostituierten, die sich in vielen Jahren am Zoo entwickelt hat und durch Christiane F.s Be- richt „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ berühmt wurde, wird seiner Meinung nach nicht so schnell verschwinden oder zum neuen Bahnhof ziehen. Die Ordnung und die Sauberkeit, die dort herrschten, signalisierten, dass diese Menschen nicht erwünscht seien. Und es wird dafür gesorgt, dass sich am Hauptbahnhof keine Szene etabliert: Zwischen Swarowski-Kristallgeschäft und Delikatessrestaurant, zwischen S-Bahn- und ICE-Gleisen patrouillieren jeden Tag 70 Polizisten im Wechselschichtdienst.

Nadja Dumouchel

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