: Die Sau im Sandkasten
MITBEWOHNER Wildschweine und Waschbären drängen in die Stadt und verwirren den Menschen. Derk Ehlert klärt besorgte Bürger auf
VON EVA VÖLPEL
Da sind die Schweine. Wildschweine. Derk Ehlert steigt aus seinem Kleinbus. Es ist eine ganze Rotte. Ehlert hat keine Angst. Zügig geht er auf die Bache mit ihren sieben Frischlingen zu. In der Luft liegt ein würzig-strenger Geruch. Einen Meter vor der Wildsau bleibt er stehen und schnaubt ein paar Mal in ihre Richtung. Die Bache flieht sofort.
„Das kennt sie nicht“, sagt der Jagdreferent des Berliner Senats. „Deswegen geht sie lieber.“ Sind Wildschweine mit Nachwuchs nicht gefährlich? „Man muss Respekt haben, ja, aber in acht Jahren habe ich noch nie erlebt, dass ein gesundes Wildschwein einen Menschen angegriffen hat“, stellt Ehlert fest. Höchstens, nachdem ein Auto ein Wildschwein angefahren habe oder wenn ein Hund eines jage und ein Mensch denkt, er muss dazwischengehen.
Trotzdem: In deutschen Großstädten herrscht Wildschwein-, nein, sogar: Wildtieralarm. Gerade ist am Berliner Teufelssee mitten im Villenviertel Grunewald eine Rotte von Tieren zwischen den Badegästen durchgezogen. Obwohl sich die Schweine nur die überfüllten Mülleimer vornahmen, spricht eine Boulevardzeitung danach von „Alarm“, „Attacken“ und von Badegästen, die „terrorisiert“ würden. Halbnackte Menschen fordern im lokalen Fernsehprogramm ein „hartes Durchgreifen“.
Suhlen zwischen Kindern
„Ach ja, die Menschen“, sagt Ehlert, 43 Jahre alt. Er seufzt.
Seit acht Jahren ist der studierte Vogelforscher als Wildtierexperte und Psychologe vor allem für die Zweibeiner Berlins zuständig. Immer, wenn wieder ein Fuchs durch die Hauptstadt läuft oder sich mit Familie auf einem Schulhof eingerichtet hat, wenn Waschbären auf Dachböden einziehen oder sich Wildschweine zwischen Kindern im Spielplatzsand suhlen, wird er gerufen. An manchen Tagen klingelt sein Telefon in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Referat Naturschutz und Landschaftsplanung, bis zu achtzigmal. Er muss sich dann oft mehr um die Menschen kümmern als um die Tiere: „Meine Aufgabe ist es, den Leuten klarzumachen, dass wir nicht alleine sind, dass es ein Miteinander geben muss.“
Die Stadtbewohner scheinen das in all den Jahrzehnten, in denen Fuchs und Hase die Häuserfluchten eher gemieden haben, ein wenig vergessen zu haben. „Es fällt schon auf, dass die Tiere zunehmend in die Stadt drängen“, bemerkt der Jagdreferent. Die Menschen reagieren verwirrt oder abweisend, was Ehlert wiederum seltsam findet: „Wir suchen die Natur, ziehen an den Stadtrand und beschweren uns dann über Wildtiere, das ist schon absurd.“ Für ihn sind vielmehr die Menschen das Problem: „Kaum sehen wir ein Wildtier in der Stadt, denken wir, da stimmt doch was nicht. Wer sagt denn das? Die alten Schullehrbücher. Aber die Welt und auch die Tiere ändern sich.“
Manchmal drohen alte Damen mit Anzeigen, weil Ehlert nicht den bösen Fuchs fängt, der die Wildkaninchen frisst. Heikler wird es, wenn Wildschweinhorden auf Futtersuche ganze Vorgärten umpflügen.
Seine wöchentliche Tour führt Ehlert an den östlichen Stadtrand. Frau Bolz hat ihn gerufen, und jetzt präsentiert sie ihr Reich. Dass ein respektloser Waschbär hier stört, wird schnell klar. Die Gartengrashalme stehen wie eine Armee. Symmetrisch perfekte Blumenbeete. Ehlert nimmt Fährte auf, geht in die Hocke und schnüffelt mal hier, mal dort, auch am Zaun. „Ja, hier kommen die rüber. Es gibt wahrscheinlich irgendwo ein leeres Haus, wo die Waschbären sich einrichten.“
Tatsächlich, es liegt genau hinter dem Bolz’schen Garten. Acht Waschbären sollen eingezogen sein. Cornelia Bolz zückt ein Fotoalbum, Beweismaterial. Umgestürzte, zerbrochene Blumenkübel. „Die Tiere werden vom Dünger in der Blumenerde angezogen, da ist Horn-Knochen-Blutmehl drin“, erklärt Ehlert. Dann springt er auf einmal zur Regenrinne. „Trittspuren, hab ich’s mir doch gedacht.“
Feine Tatzenspuren ziehen sich über die Regenrinne bis auf das Hausdach hoch. „Sie füttern aber nicht“, fragt Ehlert. „Nein“, beteuert Frau Bolz, während ein rotbraunes Eichhörnchen ihrem Mann fast auf die Schuhe klettert. Der schaut milde.
Ehlert, der Aufklärer, hat einen Tipp, wie man die Tiere vom Grundstück fernhält. Durch Vergrämungsstoffe zum Beispiel, natürliche Duftstoffe, die abschrecken. „Mehr“, sagt er, „kann ich nicht tun.“
Vielen ist das zu wenig – auch Herrn Bolz. „Kann ja wohl nicht sein, dass ich mein Grundstück nicht mehr nutzen kann“, poltert er los. „Wat soll ich machen, selber fangen, abknallen?“, fragt er. Lebendfallen aufzustellen ist per Gesetz verboten. Und nur im äußersten Notfall lässt man in Berlin Stadtjäger Tiere erschießen – wenn sie schwer verletzt sind oder Menschen bedrohen. Jagen bringt auch gar nichts, sagt Ehlert. „Kassel hat es bei den Waschbären jahrelang versucht und am Ende aufgegeben, der Bestand ging nicht zurück.“ Auch bei den Wildscheinen wäre das aussichtslos. „Das sind Reproduktionsgiganten“, stellt Ehlert fest. „Die können ihren Bestand in einem Jahr um 300 Prozent vergrößern.“ 4.000 bis 5.000 Wildschweine leben in Berlin, dazu kommen rund 1.700 Fuchsreviere mit rund 5.000 Tieren, geschätzte 2.000 Marder und 200 Waschbärfamilien.
Deren ungewohnter Anblick provoziert bizarre Anfragen. Besorgte Bürger meinen etwa, die Stadtfüchse seien so schmal und hätten zu lange Beine. Um über die Zäune zu klettern? „Dabei sag ich ihnen, Füchse im Wald und in der Stadt haben immer gleich lange Beine. Die Bäuche müssen auch nicht auf dem Boden schleifen wie bei manchem Dackel.“
Pommes für den Fuchs
Auch wenn der Mensch sich wundert, er ist selbst schuld. Er drängt die Tiere in die Stadt: „Wir betonieren immer mehr Flächen zu. Wir wollen billige Lebensmittel, fördern Monokulturen. Für Tiere bleibt da außerhalb der Stadt kein Platz mehr. Also bewege sich der Fuchs in Richtung Hochhäuser, „am berühmten Schnellimbiss findet er in der Mülltonne Huhn und Rind, gut gewürzt, mit Pommes dazu“.
Durch die Klimaveränderungen geraten außerdem viele Eichen unter Dauerstress und produzieren massenweise Eicheln. Die Wildschweine finden immer mehr Nahrung. Die Bachen werfen.
Und dann sind da noch die Fütterer, diese Pseudotierliebhaber, die selbst Bußgelder von bis zu 5.000 Euro nicht aufhalten. „Die ärgern mich richtig. So werden die Tiere zahm, kommen überall hin – dann gehen die Probleme erst richtig los.“
Ehlert macht sich auf nach Mahlsdorf, wo die Felder beginnen und weit und breit nur noch Raps und Mais zu sehen sind. Die letzte Station der wöchentlichen Tour. Ein Hausmeister hat um Hilfe gerufen. In einer Tiefgarage sollen Waschbären Autos beschädigen. Von Schäden ist aber nichts zu sehen. Da sind nur Tatzenspuren auf Motorhauben und Windschutzscheiben von Autos, deren Besitzer der gehobeneren Einkommensklasse angehören. „Mein Haus, mein Auto, wo kämen wir hin, wenn sich dem ein Tier nähert“, sagt Ehlert. „Ein bisschen mehr Coolness würde uns allen guttun.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen