: Flucht zu Flüchtlingen
AUS AIN AL-HELWEH MARKUS BICKEL
Ein braunes Hemd des Toten liegt noch zwischen dem Geröll und den in den Krater gestürzten Häuserwänden. „Hier hat er gelegen“, sagt ein Nachbar von Anwar Mohammed al-Aouti und zeigt in einen Spalt zwischen Erdresten und Gemäuer. „Den ersten Bombeneinschlag hat er noch überlebt.“ Doch fünf Minuten später, gegen ein Uhr früh am Mittwoch, schossen israelische Kampfflieger ein zweites Geschoss in das dicht besiedelte Palästinenserlager Ain al-Helweh, und al-Aouti war tot. „Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet“, waren seine letzten Worte. Tot auch Said Abu Nasr, der ein paar Häuser weiter wohnte.
Wo vor vier Tagen noch mehr als zehn Gebäude standen, sind heute zwei sechs Meter tiefe Krater. Auch die Häuser und Vorplätze hinter den direkten Einschlagstellen sind verwüstet. Decken und ein paar eckige Plastikkörbe ragen aus den Trümmern hervor. Hajder al-Hajder schlägt immer wieder die Hände vor seiner Brust zusammen. Sieben Töchter von ihm seien durch den Anschlag verwundet worden, erzählt er mit heiserer Stimme. Noch bevor die zweite Bombe einschlug, riss er eines der Mädchen aus ihrem Rollstuhl, um sie in Sicherheit zu bringen. Der 41-Jährige zieht das rechte Hosenbein hoch, ein paar Schürfwunden hat ihm der Angriff auch beschert. Verzweifelt sagt er: „Selbst wenn man ein militärisches Ziel treffen will, kann man doch nicht einfach unschuldige Menschen angreifen, Kinder.“
Libanesische Zeitungen berichteten, die beiden im größten Palästinenserlager des Landes eingeschlagenen Geschosse hätten Oberst Munir Maqdah gegolten, dem Militärchef der palästinensischen Fatah-Bewegung im Libanon, der der Hisbollah-Führung um Generalsekretär Hassan Nasrallah nahesteht. Doch Kader der mit der Fatah in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vereinten Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) erklären, Maqdahs Sitz befinde sich am Südrand des Lagers, nicht hier am Nordende Ain al-Helwehs. Talil Abu Ali, Mitglied im Politbüro der Organisation im Libanon, sagt: „Der Angriff ist eine klare Botschaft an die Bewohner des Lagers, dass die Israelis niemanden aussparen: weder Christen noch Muslime.“
Über zweitausend Flüchtlinge hat Ain al-Helweh, die von engen Gassen mit zerschlissenem Belag durchzogene Siedlung am Ostrand der historischen Hafenstadt Saida, seit Kriegsbeginn aufgenommen. Eine seltsame Wendung der Geschichte: 1948 flohen in die heute 70.000 Einwohner große Stadt viele aus Israel vertriebene Palästinenser. Trotz Jahrzehnten im Exil weigert sich der libanesische Staat bis heute, ihnen die vollen Bürgerrechte zuzugestehen. Das stets als Zeichen panarabischer Solidarität im Munde geführte Bekenntnis zum Rückkehrrecht in ihre Herkunftsorte geriet so schon vor langem zur Ausrede, um die über 400.000 im Libanon lebenden Palästinenser gesellschaftlich auszugrenzen.
Und nun fliehen plötzlich Libanesen in die bislang sicher geglaubte palästinensische Hochburg: Fast sechzig Jahre nach ihrer eigenen oder der Flucht ihrer Eltern aus Israel empfangen die in Krisenintervention geübten Bewohner Ain al-Helwehs ihre libanesischen Landsleute mit offenen Armen. Beispielsweise in der Samua-Schule, gelegen direkt rechts hinter der von Jassir-Arafat-Transparenten geschmückten Einfahrt in die No-go-Area für libanesische Polizei und Militärs. Ein PFLP-Milizionär mit kleinem Gewehr sitzt auf einem weißen Plastikstuhl hinter dem blau getünchten Tor, das das von der Hilfs- und Arbeitsagentur der Vereinten Nationen für die Palästinensischen Flüchtlinge (UNWRA) betriebene Schulgebäude eingrenzt. Schon an der Haustür herrscht dichtes Gedränge.
Hurrya Alfar von der Palästinensischen Frauen-Union führt uns in den ersten Stock. In Friedenszeiten leitet die zugleich energisch und einfühlsam auftretende Frau eine Kinderfolkloregruppe. Seit vier Wochen kümmert sie sich um das Wohlergehen der Neuankömmlinge in den Schulen im engen Gassengewirr von Ain al-Helweh. „Für uns sind das keine Flüchtlinge, schließlich ist der Libanon ihr Haus“, sagt die 41-jährige. „Wir sind ihre Gäste.“ Abdullah Hamid Ahmah, der mit seiner Frau und den fünf Kindern in dem hellen Klassenraum untergekommen ist, gibt das Lob zurück. „Man spürt, dass wir hier von Flüchtlingen empfangen werden“, sagt der 43-jährige Schiit, der mit seiner Familie vor knapp zwei Wochen aus der heftig bombardierten südlibanesischen Gegend um Bint Dschbeil floh. „Zum ersten Mal kann ich die Situation der Palästinenser wirklich verstehen.“
Auf einem Brett an der Wand stehen ein paar Lipton-Schächtelchen mit Ceylon-Tee, eine Flasche Sonnenblumenöl und eine Wasserpfeife. Die arabischen Kreidebuchstaben an der Tafel sind Wochen nach Schulschluss schon ein wenig verblichen, die Tische an die Wände gerückt. In der Ecke am Fenster gegenüber der Tür kauert eine ältere Frau auf einem verschlissenen Teppich und drückt eine Zigarette aus. „Uns fehlt es vor allem an Matratzen“, sagt Hurrya Alfar. Knapp 370 Flüchtlinge sind in der Samua-Schule untergekommen. Kein Grund zur Klage für Alfar, die in all dem Elend immer noch hoffnungsvolle Botschaften entdeckt. „Zum Glück ist es Sommer und nicht Winter, auch wenn natürlich viele immer noch auf dem nackten Boden schlafen müssen.“
Nicht nur in Ain al-Helweh, auch in Saida selbst ist der Matratzenmangel dieser Tage offenkundig. Auf der Hauptstraße aus dem Palästinenserlager hinunter in die Stadt fährt ein schäbiger Mercedes 200 vorbei, aufs Dach geschnürt sind sieben übereinandergestapelte Schaumstoffmatratzen.
Die Solidarität der palästinensischen Bewohner Ain al-Helwehs mit den Neuankömmlingen hat längst die Grenzen des Lagers gesprengt. Überall in der Stadt, die inzwischen 150.000 Flüchtlinge aufgenommen hat, sind die Aktivisten aus der Trabantenstadt zu sehen. Sei es bei den täglichen Besprechungen im Rathaus, wo Bürgermeister Abdul Rahman Bizri schon seit dem zweiten Kriegstag die Koordination der vielen Hilfsinitiativen mit den städtischen Aktivitäten organisiert. Sei es in den vielen Schulen, in denen die aus den heftig umkämpften Gegenden um Tyrus, Bint Dschbeil, Marjajun und Nabatieh Geflohenen untergekommen sind.
Zafer Khatib ist einer von ihnen. In Friedenszeiten arbeitet der 39-Jährige in der Organisation „Nashit“ („Aktivisten“), die die Situation der Jugendlichen von Ain al-Helweh verbessern hilft. „Wir konzentrieren uns auf Bildung und Kultur, um es den Jugendlichen zu ermöglichen, ihre Rolle in der Gesellschaft zu verändern – doch jetzt hat der Krieg diese Arbeit unterbrochen.“ Seit Ausbruch der Kämpfe zwischen Hisbollah-Milizen und israelischer Armee am 12. Juli kümmert Khatib sich um die Versorgung und Unterbringung der nach Saida Geflüchteten.
Rund 200 Menschen sind in der ebenfalls von der UNRWA betrieben Zahra-Schule ganz in der Nähe des Busbahnhofes und des Rathauses untergekommen, 25 Freiwillige kümmern sich in wechselnden Schichten darum, Nahrung, Medikamente und Schlafunterkünfte bereitzustellen. Innerhalb weniger Tage, erzählt Khatib, hätten Flüchtlinge und Aktivisten gemeinsam Jugend-, Kinder- und Frauenkomitees gegründet. „Dieser Krieg kann lange dauern, da ist es nötig, diese Gesellschaft im Kleinen hier gut zu organisieren.“
Das ist nicht immer einfach. Nicht nur, weil Wasser und Milch für die Kleinkinder immer wieder knapp werden. Auch, weil die Anspannung mit jedem Kriegstag wächst. Adibi Falil kam schon am achten Kriegstag nach Saida und ist in der Zahra-Schule nun mit ihrem Mann und zwei ihrer sechs Kinder in einem dunklen Zimmer ohne Fenster untergekommen. Ob der Rest ihrer Familie in einem östlich der von der Außenwelt weitgehend abgeschnittenen Hafenstadt Tyrus gelegenen Dorf noch in Sicherheit ist, weiß die 55-Jährige nicht. Ermüdet sagt sie: „Ohne Sieg können wir nie wieder in Würde leben.“ Jeden Tag bete sie für die Kämpfer der Hisbollah, auch zwei ihrer Söhne hätten sich den Einheiten von Generalsekretär Hassan Nasrallah angeschlossen.
Zwar sind weder in den Straßenzügen Saidas noch in den engen Gassen Ain al-Helwehs Plakate mit Porträts Nasrallahs oder die gelben Fahnen der schiitischen Partei mit bewaffnetem Flügel zu sehen. Doch die Solidarität mit der „Partei Gottes“ kennt scheinbar keine Grenzen. „Wir unterstützten alle Organisation, die im Widerstand gegen Israel tätig sind“, sagt Talil Abu Ali, der PFLP-Kader, im Hof vor dem schlichten Büro der Organisation. „Sicherlich stehen Hamas und Islamischer Dschihad der Hisbollah ideologisch näher, aber den Widerstand bilden wir alle gemeinsam.“
Das PFLP-Büro liegt nur ein paar Ecken von der Stelle entfernt, wo in der Nacht auf Mittwoch die israelischen Raketen einschlugen. „Der Angriff richtet sich gegen uns alle“, erklärt Abu Ali und lässt keinen Zweifel daran, dass er gemeinsam mit libanesischen Truppen gegen israelische Einheiten kämpfen würde, sollte die Regierung in Beirut dazu aufrufen. „Zumindest, um unsere Lager zu verteidigen.“ So wie im Sommer 1982, als palästinensische Milizionäre in Ain al-Helweh einrückende israelische Truppen mit Salven von Panzerabwehrraketen empfingen.
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