: Die Note lügt!
SINNLOSES PRÜFEN Die pensionierte Lehrerin Ursula Leppert spießt in ihrer Streitschrift „Ich hab eine Eins! Und du?“ Sinn und Unsinn von Noten auf: Sie nützen nicht dem Kind, sondern nur dem Schulsystem
■ Ursula Leppert: „Ich hab eine Eins! Und du? Von der Notenlüge zur Praxis einer besseren Lernkultur“. München (Uni-Online Press) 2010, 14,90 Euro
Seit rund 100 Jahren ist es wissenschaftlich unumstritten, dass Schulnoten als Messinstrument für Lernleistungen nicht taugen. Das wird „verschwiegen, weil ohne Noten unser Schulsystem zusammenbräche“, schreibt Ursula Leppert. Die Not mit den Noten wird hingenommen, um das System zu erhalten. An die Kinder, die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer denken die politisch Verantwortlichen nicht.
Ursula Leppert ist gelungen, wonach ich in meinen bislang 35 Jahren Beschäftigung mit Pädagogik stets gesucht und was ich nie gefunden habe: ein wirklich für jeden verständliches Buch zu schreiben, das Notenkritik und die Schlussfolgerungen daraus für eine bessere Lernkultur so schlüssig wie unterhaltsam zusammenfasst: „Ich habe eine eins! Und du?“
Sein Grundgedanke ist: In der Schule von heute hat zumeist das Bewerten Vorrang vor dem Lernen. Leppert fordert die Umkehr: „Der erste Schritt ist eine neue Lernkultur, der zweite eine neue Feedbackkultur. Das geht nicht mit Noten, das geht nur mit Worten. Miteinander reden!“
48 überschaubare Abschnitte verteilen sich auf fünf große Kapitel und weisen unterschiedliche Textformen auf. So gibt es jeweils mehrere Briefe an Lernende, aber auch an Eltern oder Lehrende. Interviews, Berichte und Zitate von Kindern, Eltern oder Lehrpersonen vermitteln Authentizität. Sie wechseln sich mit klärenden Darstellungen von Sachverhalten und wissenschaftlichen Befunden ab. Durch diese aufgelockerte Struktur finden alle Lesenden ihren eigenen Zugang zum Thema. Standpunkte werden mit Für und Wider erläutert, sodass Argumentationen gut nachvollziehbar sind. Der rund 40-seitige Anhang liefert denen, die es genau wissen wollen, vertiefende Informationen zu Schulstrukturen, dem Sitzenbleiben, zu offenem Unterricht und vielem mehr.
Die Autorin ergreift engagiert und kompetent Partei für die Menschen in der Schule. Sie war selbst Lehrerin an Gymnasium und Gesamtschule und ist immer noch in der Eltern- und Initiativenarbeit aktiv. Dass eine humane Leistungsschule keine Noten braucht, zeigt sie in den ersten drei kritischen Kapiteln. Noten, ihre Messprobleme und Auswirkungen behindern das Menschenrecht auf Bildung. Individuelle Förderung und ein selektives Schulsystem lassen sich nicht miteinander vereinbaren – was die LehrerInnen in eine schizophrene Situation treibt. Die in manchen Bundesländern praktizierte Zweigliedrigkeit ist keine Lösung, sondern setzt das Selektionsprinzip fort. In „Blick über den Zaun“ und „Was tun?“ stellt Leppert konkret und anschaulich vor, wie eine andere, demokratische Schule und neue Lernkultur aussehen. Besonders ihre 15 „Schritte zur Veränderung der Schule“ seien allen Lehrerkollegien ans Herz gelegt.
Es ist eine verwegene Fantasie, aber ich könnte mir vorstellen, dass der Volksentscheid vom 18. Juli 2010 über die Schulreform in Hamburg anders ausgegangen wäre, hätten die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger vorher „Ich habe eine Eins! Und du?“ gelesen. Das Buch nimmt die Sorgen von Eltern, Lehrern und Schülern ernst. Es klärt und erklärt ihre Probleme mit Schule; es stärkt die Beteiligten in ihrem Veränderungswillen und nimmt denen, die nichts verändern wollen, ihre Angst. Wie sagte der Komponist John Cage einmal: „Ich kann jene nicht verstehen, die sich vor neuen Ideen fürchten. Es sind die alten Ideen, die mir Angst machen.“
Voilà – lesen! DETLEV TRÄBERT
Der Autor betreibt die Seite www.schulberatungsservice.de
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