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Migranten im Sog der Terrorpanik

Polizei nimmt Verdächtige wegen möglichem Anschlag in Gelsenkirchen vorübergehend in Gewahrsam. „Strafrechtlich konnten wir nichts nachweisen.“ Migranten fürchten um Reputation und spüren Vorverurteilung

DÜSSELDORF taz ■ Die Terrorangst geht in Nordrhein-Westfalen um und unschuldige Migranten sehen sich pauschalen Verdächtigungen ausgesetzt. Am vergangenen Samstag wurden acht türkischstämmige Deutsche kurzzeitig in Gewahrsam genommen, weil es Hinweise gab, dass sie einen Anschlag in Gelsenkirchen planen würden.

Die Männer aus Essen, Duisburg, Gladbeck und eben Gelsenkirchen wurden aber schon am Sonntag aufgrund fehlender Beweise wieder frei gelassen. Darüber hinaus wurden am Samstag morgen die Wohnungen und Geschäftsräume der Verdächtigen durchsucht. Die „ernstzunehmenden allgemeinen Hinweise“, so Sprecher Jörg Schlicht von der federführenden Polizei Münster, hatten sich als falsch herausgestellt. Die Polizei hätte die Hinweise jedoch nicht einfach ignorieren können, da sie eine geplante schwerwiegende Straftat ankündigten, so Schlicht.

Den gestrigen Bild-Artikel, der von einem möglichen Anschlag auf Popikone Nena berichtet, bezeichnet Schlicht als „Spekulation“. Die Bild schrieb, dass die Männer ein Tankschiff kapern und am Gelsenkirchener Amphitheater in die Luft jagen wollten. Eben dort gab Nena am Sonnabend ein Open-Air-Konzert vor mehreren tausend Fans. Man habe die Orte untersucht, an denen die Verdächtigen öfter gesehen worden seien, so Schlicht. Dies sei unter anderem eine Brücke am Rhein-Herne-Kanal in Gelsenkirchen gewesen, an deren Ufer das Amphitheater liegt. Eine Untersuchung mit Sprengstoffhunden im Vorfeld des Auftritts hatte keine Hinweise auf einen möglichen Anschlag geliefert. Während des Konzerts waren die acht fälschlicherweise Verdächtigten bereits unter der Fittiche der Polizei und es bestand nie eine Gefahr. Der Auftritt von Nena im Zusammenhang mit dem Terrorverdacht sei reiner Zufall und die Ermittlung eine „Präventivtätigkeit“, sagt Schlicht. „Lieber ein Einsatz zu viel als einer zu wenig bei der derzeitigen Sicherheitslage.“

Tayfun Keltek, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in NRW, kennt die Vorverurteilung durch Medien und „Sicherheitskräfte“. „Undifferenzierte Berichterstattung trägt dazu bei, dass unschuldige Ausländer unter Generalverdacht geraten.“ Zudem ständen ausländische Mitbürger, ausgelöst durch die momentane Terrorpanik, stärker als sonst im Fokus der Gesellschaft. „Diese Form der Vorverurteilung überrascht mich überhaupt nicht“, so Keltek. Das sei Normalität und finde jeden Tag statt.

Lediglich einer der acht Männer war den Ordnungshütern vorher bekannt. Er war durch Delikte wie gefährliche Körperverletzung auffällig geworden. Die sieben anderen gehören seinem engeren Bekanntenkreis an und wurden nur aus diesem Grund in Gewahrsam genommen. „Strafrechtlich konnten wir allen aber nichts nachweisen“, so Schlicht.

Eine Verbindung zwischen dem Polizeieinsatz in Gelsenkirchen und den Kofferbomben in nordrhein-westfälischen Regionalbahnen besteht laut Polizei nicht. Ansonsten hätte man die Bundesanwaltschaft schon längst eingeschaltet.

MATTHIAS HENDORF

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