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Der Markt ist rau und männlich

Dramatisch ist es, wenn ein Arbeitgeber die Krankenkasse nicht bezahlt. Auch wenn es sich nur um einen Tag harte Arbeit handelt. Damit betrügt er nicht nur das Arbeitsamt und sich selbst, sondern setzt vor allem die Gesundheit seiner Beschäftigten aufs Spiel. Das ist Jochen H. schon mehrmals passiert. Einmal hat er auf einem Baugerüst gestanden, als ein 350 Kilo schwerer Eisenträger auf seine Beine krachte. Im Krankenhaus musste Jochen H. eine Metallschiene in den rechten Fuß operiert werden, damit er überhaupt noch laufen kann.

Jochen H., 47, ist so etwas wie ein alter Hase unter den Tagelöhnern. Er lehnt Sozialgelder ab und sichert als Tagelöhner seine Existenz. Heute Nacht war er der Erste hier. Er hat sich bereits am Abend zuvor angestellt. Er wohnt in der Nähe in einer 2-Männer-WG und kann herlaufen. Nachdem er seine Steuerkarte über den Tresen geschoben hatte, hat er zwei Stunden auf zusammengestellten Plastikstühlen geschlafen. Jetzt sitzt er, den Oberkörper nach vorn gebeugt und auf seine Oberarme abgestützt, und wartet auf ein Wunder. Jochen H. ist kein Mann großer Worte. Es scheint, als drehten die Gedanken in seinem Kopf Pirouetten, bevor sie allmählich seinen Mund verlassen. Dabei hat er viel zu erzählen vom Dasein als Tagelöhner. Er lebt es, seit er sich nach seiner Ausbildung zum Kfz-Mechaniker selbstständig gemacht hat und nach einem Jahr pleiteging. Das ist 30 Jahr her.

Jochen, der Urberliner, kennt alle Regeln des Tagelöhnermarkts. Die sind rau und männlich. Für Frauen ist solch ein Broterwerb nicht gemacht. Allein eine Damentoilette sucht man im Jobcenter vergeblich. „Du musst pünktlich hier sein, sonst haste kein Glück“, sagt der grauhaarige Mann. Ohnehin werde es von Monat zu Monat schwieriger. Früher, noch vor 2000, da sei das alles besser gewesen. Da sei er hergekommen und habe sich die Jobs aussuchen können.

Beim Anstehen ist es wie beim Bäcker: Wer zuerst kommt, ist zuerst dran. Zwischendurch darf man seinen Platz auch mal verlassen. „Aber nicht länger als drei Stunden, ansonsten musste dich wieder hinten anstellen“, erzählt Jochen H. Es gibt immer wieder welche, die dieses ungeschriebene Gesetz zu brechen versuchen. Dann setzt es schon mal Prügel. „Früher war öfter die Polizei da. Auch ich habe mich schon gekloppt.“

Hart ist es, wenn der versprochene Lohn ausbleibt. Auch das hat Jochen H. bereits erlebt. „2.500 Mark habe ich damals verloren, die konnte auch kein Anwalt mehr reinholen.“ In der „Szene“ spricht sich das schnell herum, bei diesem Anbieter nimmt niemand mehr etwas an. Auch das Arbeitsamt will solche Abzocker nicht.

Am liebsten sind Jochen H. Jobs, die mehrere Wochen dauern. Dann weiß er, wie viel Geld herausspringt. Er ist einer der wenigen hier in der Jobvermittlung, die keine Sozialgelder beziehen. „Ich schlage mich lieber durch, als Sozialkohle zu kriegen.“ Doch die Jobs werden körperlich immer härter. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte“, sagt er. Und sieht aus, als würde er am liebsten weiterschlafen.

Um 4.18 Uhr hat Rainer Wehpke die erste S-Bahn genommen und war gegen fünf Uhr hier. Das war schon zu spät. Die beiden einzigen Jobs, die Simone Piontek von der Jobvermittlung Berlin-Mitte zu diesem Zeitpunkt zu vergeben hatte, waren weg. Aber der 44-Jährige wartet trotzdem. Die blonde, runde Frau hinter der Klappe, die sich in unregelmäßigen Abständen öffnet und wieder schließt, hat gesagt, dass eventuell noch etwas reinkomme. Ein Arbeitgeber hatte auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, dass er für heute noch jemanden brauche. Was derjenige machen müsse, hatte der Unternehmer nicht gesagt. „Aber es könnte doch was für mich sein“, meint der gelernte Elektrotechniker, der von Hartz IV lebt.

Der Monat ist fortgeschritten und das Sozialgeld knapp geworden. Mit Eintagesjobs verdient sich der Mann, der wie die meisten Tagelöhner ohne Familie lebt, „etwas Kleingeld“ dazu. Zwischen 5 und 5,50 Euro in der Stunde. Netto. Krankenkasse und Sozialabgaben trägt der Arbeitgeber. Wenn es gut läuft, kommen für Rainer Wehpke monatlich 200 Euro zusammen. Mehr dürfen es auch nicht sein, sonst muss er das Geld an das Sozialamt zurückzahlen. Das rechnet genau nach, was Hartz IV-Empfänger zusätzlich verdienen. Wie viele Tagelöhner es gibt, ist nicht bekannt. Die Arbeitsagenturen erfassen nur längerfristige sozialversicherungspflichtige Stellen.

Seit sechs Jahren kommt Rainer Wehpke ein- bis zweimal in der Woche her. Fasst er einen Job ab, schippt er auf dem Bau, schiebt in Lagern Waren hin und her, schleppt Möbel. Das sind Arbeiten, die innerhalb von Stunden erledigt sind. So kann Rainer Wehpke seine „Granaten“ bezahlen, seine Schnapsflaschen. Die Miete für seine 42 Quadratmeter große Einzimmerwohnung, 345 Euro, übernimmt das Sozialamt, ebenso Strom, Gas und Heizung. Seinen letzten festen Job hatte Wehpke Mitte der Achtzigerjahre bei IBM. Als die Firma rationalisierte, hat sie auch Rainer Wehpke rausgeschmissen. Es folgten Obdachlosigkeit und Notunterkünfte in Wohnheimen vom Sozialamt, bis er wieder eine richtige Wohnung ergatterte. Seitdem lebt er von der Hand in den Mund.

Rainer Wehpke ist ein Einzelgänger. Allein steht er an einem Tisch und redet vor sich hin. Mit den anderen, die gemeinsam die Zeit totschlagen, hat er nichts am Hut. Einige kommen nur noch wegen der sozialen Kontakte her, das ist das Einzige, was ihnen geblieben ist. Ein Job ist das Letzte, wonach sie suchen.

Rainer Wehpke aber will einen Job. Jedoch nur für ein paar Stunden. Wenn er jemals überhaupt wieder mehr als einen Tag arbeiten sollte, dann nur für „mindestens“ 2.000 Euro netto. „Alles andere ist zu wenig, ich brauche so viel Geld, um zu leben“, verteidigt er seine Vorstellungen. Heute will er noch bis 7 Uhr warten. Wenn bis dahin nichts dabei war, will er wieder in sein Bett.

Thomas Hartkopf beißt in seine Bockwurst und wischt sich mit dem Handrücken den Senf von den Lippen. Er war der Fünfte in der Reihe und hat Glück. Die Männer vor ihm haben den Job auf dem Bau abgelehnt, bei dem zuerst mit Picke und dann mit dem Spaten hantiert werden muss. Zu anstrengend für sie, sagen die anderen. Thomas Hartkopf ist jung und kräftig. Er greift sofort zu und wartet darauf, dass es sieben Uhr wird. Dann beginnt seine Tagesschicht.

Der kurzhaarige Mann mit dem Basecap fällt aus dem Muster des Tagelöhners heraus. Thomas Hartkopf, 24 Jahre alt, ist eigentlich Schauspieler. Der geborene Brandenburger ist aber nicht talentiert genug, wie er sagt, um von diesem Beruf zu leben. Obwohl er jede auch noch so kleine Rolle annimmt. Derzeit ist er in einer Massenszene am Deutschen Theater in Berlin zu sehen. Das Geld, das er damit verdient, reicht gerade für ein Essen.

Er wohnt in der Nähe des Flughafens Tegel und ist zum zweiten Mal hier. Das erste Mal hat er auf Anhieb etwas für zwei Wochen ergattert. Auch auf dem Bau, jeden Tag von 7 bis 16 Uhr für 6,65 Euro die Stunde. Netto. „Das war eine gute Sache.“ Schuhe und Hose musste er mitbringen, Helm, Handschuhe und Arbeitsgeräte gab’s auf der Baustelle. „Ich finde solche Jobs klasse, sie sind genau das Richtige für mich. Ich arbeite eine Weile, verdiene ganz gut Geld und habe dann genug Zeit, Texte zu lernen und zu proben.“ Er würde sich nie als Tagelöhner bezeichnen, er sieht sich noch nicht mal als Arbeitsuchender. Für Thomas Hartkopf fängt das Leben erst an.

Nach einer halben Stunde öffnet sich die Luke, Thomas Hartkopf wird aufgerufen. Er erhält die Adresse der Baustelle, sucht sie sich auf dem großen Stadtplan an der Wand gegenüber heraus und geht noch einmal auf die Toilette. Dann macht er sich an sein Tagewerk.

Das Gesicht von Thomas Hartkopf ist noch frisch, sein Körper straff. Die Körper der anderen, die hier eine Gelegenheitsarbeit suchen, sind verlebt und wirken verloren. Thomas Hartkopf passt nicht zwischen diese Nachtgestalten. Oder doch? „Ich könnte heute ganz woanders sein und müsste nicht um Arbeit betteln. Ich könnte in einem Ensemble spielen oder irgendwo engagiert sein.“ Doch er hat sich hängenlassen während des Studiums. Er hat gekokst und zu viele Partys gefeiert. „Das büße ich jetzt.“

Momentan sieht es so aus, als sei das Pendeln zwischen kleinen Theaterrollen und dem Tagelöhnerdasein das Einzige, was die Zukunft für ihn parat hat. „Auf dieser Basis kann ich keine Familie gründen.“ Eine Freundin hat er nicht. Und so wie jetzt, das weiß er sicher, will er nicht ewig weitermachen. „Ein Jahr vielleicht, länger auf keinen Fall.“ Und dann? „Wenn sich gar nichts findet, gehe ich ins Ausland. In Frankreich gibt es eine Fremdenlegion. Die suchen immer.“

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