: Aktive Arbeit am Vergessen
Terrorverdächtige verschwinden in Russland, Angehörige klagen an – und werden selbst Opfer. Drei Beispiele
MOSKAU taz ■ Die Lage in Tschetschenien ist stabil, alle Zeichen stehen in der kaukasischen Krisenregion auf Normalisierung. Dies möchte der Kreml die Welt gerne glauben machen. Auf den ersten Blick trifft es sogar zu. Im letzten Bericht der Menschenrechtsorganisation Memorial für 2005 haben Entführungen im Vergleich zum Vorjahr um fast ein Drittel abgenommen. 316 Fälle wurden noch registriert. Und auch die 192 Morde sind 38 Prozent weniger als 2004. Memorial ist über den Verdacht Kreml-freundlicher Deutungen erhaben. Die Organisation erfasst jedoch nur ein Drittel der Tschetschenischen Republik. Die Dunkelziffer dürfte daher höher liegen.
Swetlana Gannuschkina, Menschenrechtlerin und Verfasserin des Berichts, weist zudem auf eine neue beunruhigende Tendenz hin. Angehörige der Gekidnappten wenden sich immer seltener an Menschenrechtsorganisationen. Sie haben Angst vor Rachemaßnahmen der Geheimdienste und Sicherheitsorgane.
Auch Kläger, die vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EMG) ziehen, sind häufiger Verfolgungen durch die Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt, wie der Fall des Tschetschenen Aslambek Chatujew zeigt. Seine Klage vor dem Europäischen Gericht endete für ihn im Januar 2006 tödlich. Bei einem Sondereinsatz in Inguschetien wurde Chatujew von russischen Einheiten ermordet. Seine Familie hatte sich im Juni 2005 an den EMG gewandt, nachdem Aslambeks Bruder Sultan 2004 entführt worden war.
Niemand in Russland ist vor Willkür sicher. Dies belegt das schreckliche Schicksal Saurbek Talchigows. Der in Moskau lebende Tschetschene bot sich 2002, als ein tschetschenisches Terrorkommando im Moskauer Nord-Ost-Theater über siebenhundert Besucher festsetzte, als Geisel im Tausch an und konnte auch die Freilassung einiger Ausländer erreichen. Unter dem Vorwurf der Mittäterschaft wurde er später zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Talchigow rief das Straßburger Gericht an. Dafür wurde er im Gefängnis in Dimitrowgrad misshandelt. Besuchsanfragen der Journalistin Anna Politkowskaja werden seither mit der Begründung abgelehnt, Veröffentlichungen über Talchigow könnten als Versuch gewertet werden, das Gericht zu beeinflussen.
Spektakulär ist auch das Verschwinden der Elina Ersenojewa. Die 26-Jährige arbeitete bei einer unabhängigen tschetschenischen Zeitung und bei der Aidshilfe der Republik. Sie wurde vor zwei Wochen auf offener Straße entführt, zwei Tage nachdem sie sich in einem Brief an eine Menschenrechtsorganisation darüber beklagt hatte, dass ihre Familie von Sicherheitskräften des moskautreuen Vizepremiers Ramsan Kadyrow bedroht werde. Nach der Entführung stellte sich heraus, dass Ersenojewa im vergangenen Jahr den Terroristen Schamil Bassajew geheiratet hatte, der inzwischen als getötet gilt. Niemand weiß, ob sie von Bassajew zur Heirat gezwungen worden war. Von der Frau fehlt jede Spur. Klaus-Helge DONATHBernhard Clasen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen