piwik no script img

Viel mehr als nur Geschichte

BOSNIEN Hundert Jahre danach wird Gavrilo Princips Attentat, das 1914 den globalen Krieg ins Rollen brachte, skeptisch gesehen. Princips Schüsse halten viele für ein Fanal des serbischen Nationalismus

AUS SARAJEVO ERICH RATHFELDER

Mitten im Krieg im Jahre 1993 waren plötzlich die in Metall gegossenen Fußabdrücke von Gavrilo Princip aus dem Trottoir von Sarajevo gerissen. Princip hatte dort am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger erschossen. In Titos Jugoslawien galt er als Freiheitsheld, der gegen die imperialistische österreich-ungarische Okkupation Bosniens gekämpft hatte. 70 Jahre lang war Princip auch in Sarajevo verehrt worden war.

Sarajevo war 1993 umzingelt von serbischen Truppen. Hunderte von Granaten prasselten täglich von den Artilleriestellungen oben in den Bergen auf die Stadt. Und trotzdem hatte sich jemand die Mühe gemacht, unter Lebensgefahr die Fußabdrücke aus dem Trottoir zu wuchten. Denn: Der Attentäter Gavrilo Princip hatte damals bei der malträtierten mehrheitlich bosniakischen Bevölkerung der Stadt seinen Heldenstatus verloren. Die Attentäter von 1914, so erklärten es 1993 nicht nur Intellektuelle, repräsentierten genau den aggressiven serbischen Nationalismus, der nun für die Schüsse auf die Stadt verantwortlich sei. Princips Schüsse seien nicht als Kampf für universelle Freiheit zu verstehen, sondern als Teil eines nationalen Freiheitskampfes der Serben, die dabei eigene imperiale Interessen verfolgten.

All dies hätte bei den Historikerkonferenzen 2014 gemeinsam besprochen werden können. Doch als das Historische Institut der Universität Sarajevo zu einer Konferenz vom 19. bis 22. Juni einlud, wurde von politischer Seite in Belgrad serbischen Historikern bedeutet, diese Konferenz zu ignorieren. So wird es serbische Gegenveranstaltungen geben. Und eine Kopie des Denkmals von 1918 wird nicht nur in Belgrad, sondern auch im serbisch kontrollierten Ostsarajevo aufgebaut. Die Kontroverse über das Attentat von 1914 ist in Sarajevo nicht nur Geschichte. Es ist Teil einer nach wie vor brisanten politischen Auseinandersetzung.

Und die greift nun selbst nach Europa. Zwar versuchen die Botschaften Österreichs, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands kontroverse Debatten zu vermeiden. Man will unter dem Schirm „Herz Europas“ europäische Festlichkeiten am 100. Jahrestag in Sarajevo organisieren – von Jugendtreffs bis zu einem Konzert der Wiener Philharmoniker. Die Diskussion sollte europäisch-nachdenklich ablaufen. Man ist um Ausgleich bemüht.

Doch die Auseinandersetzung über die Geschichte entfaltet ihre eigene Dynamik. Serbische Wissenschaftler nennen die von der Uni Regensburg unterstützte Veranstaltung der Universität Sarajevo hämisch „Symposium der Verlierer“. Französische Historiker wollen im Herbst ein eigenes Symposium organisieren. Was passiert eigentlich, wenn in Ostsarajevo das Denkmal für Gavrilo Princip enthüllt wird? Welche Diplomaten werden dort hingehen, welche nicht?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen