: Illegal und echter Underground
FAHRENDER MUSIKER Er nennt sich Seph and the Streets, und er weiß, dass er sein Publikum innerhalb von ein paar Sekunden packen muss. Mit einem U-Bahn-Musiker unterwegs
VON LAN-NA GROSSE
Am Ende des Abends wird Seph seinen „Tribut an die Straße“ zahlen, ein paar Münzen aus dem klingenden Becher greifen und sie scheinbar achtlos auf das Kopfsteinpflaster legen, so als habe sie jemand verloren. Es ist seine Art, Danke zu sagen.
Seph and the Streets, „Seph, wie der zweite Teil von Joseph – und die Straßen“, so nennt sich der Berliner Musiker seit fünf Jahren und so möchte er auch hier heißen. Er trägt Fünftagebart und dunkelbraune Dreadlocks, die ihm fast bis zur Hüfte reichen und von einem schwarz-gelben Palästinensertuch zusammengehalten werden. Seine königsblaue Gitarre hängt quer über der grauen Anzugsweste, auf der ein Stern in den Farben Jamaikas prangt. Seine Schritte sind schnell auf dem Weg zu seinem nächsten Auftritt, Hunderte Menschen werden ihm gleich zuhören – keiner von ihnen kommt seinetwegen.
Der 25-Jährige ist U-Bahn-Musiker, mit einer Mischung aus Reggae, Rap und Songwriter-Pop spielt er viermal pro Woche im Untergrund dieser Stadt. Seine Geschichte ist eine von vielen, Hunderten oder Tausenden – keine Statistik erfasst diese anonymen Künstler, deren Bühne der fahrende Zug ist. Jeder Wagen ein neues Konzert.
Es ist 17 Uhr, Rushhour am Görlitzer Bahnhof. Menschen, die den Tag schon hinter sich haben, drängen auf den Bahnsteig. Seph windet sich an ihnen vorbei und springt in den hintersten Wagen der U-Bahnlinie 1, seiner Stammlinie, auf der die Akustik wegen der langen oberirdischen Strecken besonders gut ist. Hier, am Ende des Zugs, hat er den Abend und seinen Weg vor sich.
Seph positioniert sich auf der freien Fläche im Gang, dort, wo nur selten jemand steht, weil sich kaum Halt bietet. Dann fahren die Türen unter dröhnendem Hupen zusammen – sein Zeichen. Von jetzt an hat er drei Minuten, die Menschen um sich herum zu überzeugen, sein Publikum zu werden. Drei Minuten, bis sich die Türen wieder öffnen.
Im Rhythmus der U-Bahn
Er beginnt: „Meine Herrschaften, der ein oder andere von ihnen hat die folgende Geschichte heute bestimmt schon mal beobachten können, denn diese Geschichte passiert so gut wie jeden Tag gleich hier in diesem Zug.“ Sephs Finger schieben sich über die Saiten, mit der flachen Hand klopft er im Takt auf den hölzernen Korpus, seine Füße suchen festen Stand in der anfahrenden Bahn. Breitbeinig geht er in die Knie und bewegt seinen Körper im Rhythmus der Musik und der rumpelnden U-Bahn.
Doch die grauen Herren, die sich auf den Sitzbänken an Frauen mit Bomberjacken aus Ballonseide drücken, sehen ihn nicht. Ihre Augen ruhen auf den Displays ihrer Smartphones, Kopfhörer schirmen sie von der Außenwelt ab. Seph muss kämpfen, um zu ihnen durchzudringen – schon nach wenigen Sekunden entscheidet sich, ob ihnen gefällt, was sie hören. Beiläufig, wie ein Klick auf Facebooks Gefällt-mir-Button. Nur dass dieser Klick Geld kosten soll, weil Seph davon lebt.
„Mein einziger Halt sind die Leute, die mir täglich was geben – ich wollte was bewegen, früher träumte ich oft, und weil ich Träumen liebe, holte ich immer häufiger Stoff“, rappt er. Eine Junkie-Geschichte. Es ist nicht seine, aber er hat sie oft genug erlebt, war nah an ihr dran.
Als der Musiker vor fünf Jahren begann, in U-Bahnen zu spielen, drohte sein Leben zum Klischee zu verkommen: Der Kontakt zu dem kleinstädtischen Elternhaus, aus dem er früh ausgebrochen war, war abgerissen, es hielt ihn nicht lange an einem Ort, im Job, in einer Wohnung. Manchmal hatte er einen Rausch zu viel. Das Einzige, was ihn wirklich berührte, war Musik. Also lernte er von Kollegen in Parks und an Bordsteinkanten, wie man Fremde davon überzeugt, für ungefragte Konzerte Geld zu bezahlen. Die U-Bahn war ein Ort zum Ausprobieren, eine Herausforderung. Er wollte seine Leidenschaft zum Beruf machen, die ganz große Bühne erreichen.
Dann führte sein Weg aber erst in den Knast. Er hatte versucht, Kokain aus Trinidad und Tobago nach Deutschland zu schmuggeln, zweieinhalb Jahre saß er deswegen ein. Als er danach wieder den fahrenden U-Bahn-Boden unter den Füßen spürte, entschied er, auf dieser Bühne zu bleiben. An der Haltestelle Kurfürstenstraße, einem Ort, an dem sich Prostitution, Drogenkonsum und bürgerliches Leben kreuzen, schrieb er den Text zu „Teufelskreis“, dem Song, den er heute wieder spielt.
Publikumswechsel am Kottbusser Tor. Seph kämpft stoisch weiter: „Doch ich weiß, warum mir kein Mensch in die Augen schaut. Ich bin ein Spiegel der Gesellschaft, ein Produkt des Systems, ein Extrem, das jedem zeigt, so kann es nicht weitergehn.“ Selten schaut jemand zu ihm auf – als würde auf dem Schild unter dem Nothaltegriff „Nicht hinsehen“ stehen. Doch jedes Mal, wenn Seph diese Zeilen rappt, passiert etwas mit den Menschen um ihn. Eine junge Frau mit pinker Jacke und gleichfarbigen Lippen zieht ihre Stöpsel aus den Ohren, der gelfrisierte Mann gegenüber legt sein Telefon zur Seite. Viele halten inne. In einer Ecke kichern Spätpubertierende und recken ihre Daumen in „Gefällt-mir“-Manier. Andere wirken beschämt, blicken ertappt zu Boden. Seine Geschichte trifft den Nerv eines Ich-versunkenen Publikums. Sie ist anders als das, was sie erwartet haben, was sie sonst von den U-Bahn-Musikern geboten bekommen. Szenenapplaus.
Keine Lizenz zum Spielen
Als das Hupen der Türen kurz darauf erneut ertönt, schieben sich zwei Mitarbeiter der BVG ins Abteil. Schlagartig verstummt der Musiker, geht in die Hocke und verschwindet zwischen stehenden Gästen. Denn die Bühne, auf der er steht, ist illegal, die BVG verbietet das Musizieren in ihren Bahnen aus „Gründen der Verkehrssicherheit“. „Künstliche Geräusche“ könnten von Durchsagen oder einfahrenden Zügen ablenken. Wer spielen möchte, darf dies nur an festgelegten Orten in U-Bahnhöfen, nach Anmeldung. 60 Lizenzen werden jeden Monat in ganz Berlin verteilt – zu wenige für Seph und seine Kollegen, also ziehen sie weiter durch die U-Bahnen.
Seph weiß, dass nicht jedem gefällt, was er tut. Oft genug wird er beschimpft, Fahrgäste fühlen sich belästigt. Manchmal stört sie der Lärm, manchmal die Geschichte, die er erzählt. Doch er versteht sich als Künstler, nicht als Bettler, liebt seine Bühne und die tägliche Ungewissheit. Meistens. Und so endet jeder Auftritt mit den Zeilen: „Doch hier geht meine letzte Kraft hin, das ist Schwachsinn – schwach wie eure Augen, die schlafen und nur so tun, als ob sie wach sind.“
18 Konzerte an 54 Stationen hat er in den vergangenen drei Stunden gespielt – und 80 Euro verdient. So viel, dass er Angst davor hat, jemand könnte das „strange“ finden. Dann denkt er lange nach und entscheidet schließlich, dass es ein sehr demokratischer, gerechter Lohn ist. In seinem Becher klimpern die Münzen, während er sie zwischen den Fingern dreht. Er greift ein paar von ihnen und legt sie behutsam auf die Straße.
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