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Archiv-Artikel

Franz Kafkas rentable Leiden

Den Hypochonder treibt es alle anderthalb Wochen zum Arzt – und der hat nichts dagegen. Denn auch jener ist ein gern gesehener Patient

„Der Gedanke an meine Verdauung reicht schon, um sie zu verlieren“, sagte Franz Kafka. Ein Satz, wie er typisch ist für einen Hypochonder. Neben dem deutschen Schriftsteller litten auch Thomas Mann, Sigmund Freud und Charlie Chaplin immer wieder an eingebildeten Krankheiten, der Maler Andy Warhol tyrannisierte einmal wochenlang seine Umwelt, weil er eine harmlose Leistenzerrung für einen Tumor hielt. Doch Hypochondrie ist keineswegs das Problem versponnener Genies.

Hierzulande ist etwa jeder zehnte Patient einer Hausarztpraxis ein Hypochonder, die WHO setzt Deutschland bei Krankheitsängsten auf einen Spitzenplatz. Wobei diese Ängste umso mehr grassieren, wenn Horrormeldungen über Vogelgrippe oder BSE umlaufen.

Ein „echter“ Hypochonder ist aber von solchen Trendkrankheiten unabhängig, er betätigt sich ganzjährig als „Arzte-Hopper“, der von einer Praxis zur nächsten tingelt. Das Deutsche Ärzteblatt berichtet von einem Patienten aus Essen, der in fünf Jahren mehr als 50 Ärzte konsultierte, darunter 8 Kardiologen. Am Ende dokumentierten 30 EKGs, dass er kerngesund war.

Spitzenreiter unter den eingebildeten Krankheiten sind Krebs sowie Beschwerden an Herz und Kreislauf. Die Ursachen für die Hypochondrie können vielfältig sein, oft haben die Betroffenen in ihrer Verwandtschaft einen schweren Krankheitsfall erleben müssen. Geschlecht und Alter spielen hingegen keine Rolle. „Hypochondrie tritt in allen Altersgruppen auf, und Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen“, erklärt Psychologin Gaby Bleichhardt von der Universität Mainz.

Der amerikanische Psychiater Brain Fallon hat allerdings festgestellt, dass viele Hypochonder in ihrer Kindheit eine überfürsorgliche Mutter hatten, „die sich auf jedes körperliche Symptom gestürzt hat“. Das Kind werde dadurch frühzeitig darauf geeicht, dass man Aufmerksamkeit und Liebe bekommt, wenn man krank ist. Im Erwachsenenalter hingegen sorgen Hypochonder meistens für Spott und Ärger. Auch in der Arztpraxis. Was allerdings deren Eigentümer nicht daran hindert, ihre eingebildeten Kranken aufwendig und teuer zu betreuen.

Gaby Bleichhardt fragte 390 niedergelassene Mediziner nach ihrem Umgang mit unbegründeten Krankheitsängsten. 117 antworteten, und von denen nahm sich jeder Vierte für seine hypochondrische Klientel dreimal so viel Zeit wie für seine übrigen Patienten. Und jeder Dritte gab zu, eigentlich unnötige Untersuchungen durchzuführen. Vermutlich ist die Quote sogar noch höher – denn immerhin blieben über zwei Drittel der befragten Ärzte ihre Antworten schuldig.

Sicherlich: Hypochonder sind zwar organisch gesund, doch sie leiden unter einer Zwangsstörung, die unbedingt behandelt werden muss. Doch das ist wohl nicht der Grund für die ärztliche Fürsorge. Denn Zwangsgestörte behandelt man durch Psychotherapie und spezielle Arzneimittel und nicht dadurch, dass man ihre Zwangsvorstellungen hofiert. Man behandelt ja einen Patienten mit Waschzwang auch nicht dadurch, dass man ihm ein Stück Seife gibt.

Bleibt also die Vermutung, dass man den Hypochonder einfach als lohnendes Renditeobjekt halten will. Immerhin geht er alle anderthalb Wochen zum Arzt – und fühlt sich umso ernster in seiner Krankheitsangst genommen, je aufwändiger und teurer die Behandlung ist.

Die AOK beklagt: „Hypochonder bereiten ein Vielfaches der üblichen ambulanten Behandlungskosten.“ Dass sich daran in Kürze etwas ändern wird, ist eher unwahrscheinlich. Laut einer Erhebung der Stuttgarter Angstambulanz suchen Ärzte beim Hypochonder durchschnittlich acht Jahre lang nach körperlichen Ursachen, bevor sie ihn endlich an den eigentlich zuständigen Psychotherapeuten überweisen. JÖRG ZITTLAU