: Ein Moralist mit Konjunktur
MODERNER KLASSIKER Braunschweig, Hannover, Osnabrück, Hamburg: Überall im Norden adaptieren die Theater in der Vorweihnachtszeit Romane von Erich Kästner. Warum?
VON DANIELA BARTH
Romanadaptionen erfreuen sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit auf den deutschsprachigen Bühnen. Die Theater im Norden hat zur Vorweihnachtszeit eine Erich Kästner-Welle erfasst. Es gibt Kästner-Premieren im Staatstheater Braunschweig und am Schauspiel Hannover sowie Wiederaufnahmen von Kästners „Pünktchen und Anton“ am Hamburger Schauspielhaus und am Theater Osnabrück.
Der Kinderbuchautor, Journalist und Satiriker Erich Kästner ist ein wichtiger Chronisten des vergangenen Jahrhunderts, ein humorvoller Beobachter und trotzdem erstaunlich scharfzüngiger Mahner. Er glaubte in psychoanalytischer Manier, man müsse zur Kindheit zurückgehen, um die Neurosen der Menschheit zu heilen.
Kästner glaubte an Erziehung und Bildung, an den Frieden und die Humanität und predigte sie in seinen Werken den Kindern wie auch den Erwachsenen: „Das Leben ist ernst und schwer. Und wenn die Menschen, denen es gut geht, den anderen, denen es schlecht geht, nicht aus freien Stücken helfen wollen, wird es noch ein schlimmes Ende nehmen“, ist einer seiner Gedanken in „Pünktchen und Anton“.
Kästners Kinderbuchklassiker ist 80 Jahre alt und setzt sich mit sozialen Ungleichheiten kindgerecht, aber scharfsinnig auseinander. Dies sei auch der Grund, diesen Klassiker für die ganze Familie auf die Bühne zu bringen, sagt Andreas Steudtner, der Leiter des Jungen Staatstheaters Braunschweig.
„Pünktchen und Anton“ sei eine „Geschichte von früher“, in der arme und reiche Kinder aufeinandertreffen, doch sie beherberge eben eine brisante Aktualität. „Immer, wenn gesellschaftliche Werte im Schwinden sind, kommt man auf die Klassiker zurück“, begründet Steudtner die Kästner-Welle an norddeutschen Theatern.
Ein weiterer Grund sei die wachsende Bedeutung der Kinder- und Jugendtheater, die sich für ihr junges Publikum immer ernsthafter am gesellschaftlichen Diskurs beteiligten. „Pünktchen und Anton“ spielt in den 1920er Jahren der Weimarer Republik. „Diese märchenhafte Geschichte nimmt ein gutes Ende, weil die reiche Familie der armen letztlich hilft. Durch das Weggerückte glaube ich daran, dass sie von Kindern wie Erwachsenen sehr gut verstanden und ins heutige Bewusstsein transportiert wird“, sagt der Jugendtheaterleiter aus Braunschweig.
Ähnlich sieht es der Regisseur des Schauspiels Hannover, Florian Fiedler, der „Das doppelte Lottchen“ inszeniert. „Ich mag an Erich Kästner die fordernde Moral, die Unbedingtheit der Kinderperspektive, die beim Lottchen ja sogar so weit geht, dass die Kinder die Macht und damit auch die Verantwortung übernehmen.“
Das Scheidungsthema werde ja unaufhörlich virulenter, und mittlerweile gewinne auch die Frage nach dem Sinn von Autoritäten wieder mehr an Bedeutung, sagt Fiedler. Außerdem habe Kästner eine sehr berührende Poesie und einen sehr charmanten Humor. „Alle Figuren, die er schreibt, haben ein Eigenleben, einen Widerstand in sich – das ist fürs Theaterspielen ein gefundenes Fressen.“
„Pünktchen und Anton“, Theater Braunschweig, Premiere 6. 11., 16 Uhr „Das doppelte Lottchen“, Schauspiel Hannover, Premiere 14. 11., 18 Uhr
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