: „Hartz IV ist ohne Zukunft“
INTERVIEW HANNES KOCHUND KATHARINA KOUFEN
taz: Herr Althaus, die Union will den Druck auf Hartz-IV-Empfänger erhöhen. Weigert sich ein Arbeitsloser, eine Stelle anzunehmen, sollen ihm früher und härter die Leistungen gekürzt werden. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen schlagen Sie das Gegenteil vor.
Dieter Althaus: Jeder Bürger soll ein garantiertes, bedingungsloses Grundeinkommen von 800 Euro pro Monat erhalten. Auch ohne die Verpflichtung, seine Arbeitsbereitschaft nachzuweisen. Positive Anreize sind doch wirkungsvoller als negative. Wir haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, dass gesetzliche Veränderungen bei Transferleistungen immer erhebliche Belastungen verursachten. Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für diejenigen, die die Sanktionen durchsetzen müssen.
Hartz IV weiter zu verschärfen, halten Sie für falsch?
In der heutigen Logik ist der Ansatz folgerichtig. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, muss auch mit Sanktionen rechnen. Aber welche Konsequenzen hat das? Man muss die Sanktionen ja auch durchsetzen. Durch die Kürzungen stellt sich dann für die betroffenen Menschen die Existenzfrage. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich, dass wir so nicht weiterkommen. Hartz IV ist auf Dauer nicht zukunftsfähig. Wir brauchen einen Systemwechsel.g
Wenn die Betroffenen eine Arbeit annähmen, heißt es, bräuchten sie nicht zu darben.
Aber diese Jobs im Niedriglohnbereich sind im Moment kein wirklicher Anreiz. Besonders, wenn der größte Teil des Verdienstes noch mit Hartz IV verrechnet wird.
Sie halten das ganze System der sozialen Sicherung für falsch?
Man muss den Menschen Anreize für ihre eigene Leistung bieten. Das findet heute viel zu wenig statt. Der Staat muss seinen Bürgern wieder mehr Vertrauen entgegenbringen.
Wenn es das bedingungslose Grundeinkommen gäbe – würden sich die Menschen dann anders verhalten als heute?
Ich habe Vertrauen in die Menschen. Die Bürger wollen Anerkennung, auch in aller Regel durch Arbeit. Das Grundeinkommen oder das solidarische Bürgergeld, wie ich es nenne, verbindet die individuelle Leistungsbereitschaft mit dem Gedanken der gesellschaftlichen Solidarität.
Jeder Erwachsene soll 800 Euro erhalten und davon 200 Euro als Gesundheitspauschale gleich wieder abgeben. Für zusätzlichen Verdienst würde man 50 Prozent Steuer zahlen. Das ist kaum mehr als Hartz IV. Wo sehen Sie den neuen Anreiz für die eigene Leistung?
Wer heute einen Niedriglohnjob hat, verdient bei uns häufig unter Hartz-IV-Niveau. Das wäre beim Grundeinkommen anders. 800 Euro bekommt jeder, und vom eigenen Zusatzverdienst kann man die Hälfte behalten. Dieser Ansatz ist ein deutlich größerer Anreiz, auch eine gering bezahlte Tätigkeit anzunehmen.
Ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger, der heute 500 Euro hinzuverdient, hat unter dem Strich rund 850 Euro pro Monat. In Ihrem Modell wären es auch nicht mehr. Warum sollen die Leute dann freiwillig anfangen zu arbeiten, wie Sie hoffen?
Die heutige Gesetzgebung ist kompliziert. Wie viel bekommt man heraus? Wie viel muss man vom Zuverdienst an den Staat abgeben? Unser Modell dagegen ist eine klare Sache. Sie bekommen 800 Euro und dürfen darüber hinaus die Hälfte Ihres Zuverdienstes behalten. Jeder kann sich überlegen, ob ihm das Grundeinkommen ausreicht oder ob er mehr verdienen will.
Verdienst ist moralisch stark an Arbeit geknüpft. Befürchten Sie nicht, dass die Union Ihr Bürgergeld als Faultierprämie abtut?
Das solidarische Bürgergeld ist mit 600 Euro nach Abzug der Gesundheitspauschale nicht so bemessen, dass es zur Ruhe einlädt. Wer die gegenwärtigen Regeln befürwortet, muss sich fragen lassen: Wo sind die Anreize zu eigenverantwortlichem Handeln? In guter Absicht versuchen wir, Menschen Jobs zu vermitteln, die oft nicht vorhanden sind. Man kann es auch so betrachten: Millionen ehrenamtlicher Tätigkeiten würden plötzlich bezahlt. Welch eine neue Wertschätzung für Arbeit, die den Zusammenhalt unserer Gesellschaft fördert.
Auch Gutverdiener sollen das Grundeinkommen erhalten. Ist es gerecht, wenn der Staat einem Professorenehepaar 800 Euro schenkt?
Das solidarische Bürgergeld stelle ich mir für Erwachsene in zwei Stufen vor: 800 Euro und 50 Prozent Steuern bis 1.600 Euro Verdienst, 400 Euro und 25 Prozent Steuern ab 1.600 Euro. Mit diesem System sind die Wechselfälle des Lebens geregelt. Auch ein Universitätsdozent wird vielleicht arbeitslos oder will eine Bildungszeit einlegen. In diesen Fällen stünde ihm das Grundeinkommen zur Verfügung. Das solidarische Bürgergeld begleitet die gesamte Biografie bis ins hohe Alter. Der Staat muss nicht immer danebenstehen und sich für jede neue Situation eine gesetzliche Regulierung ausdenken.
Sie schlagen vor, dass Gutverdiener nur 25 Prozent Einkommensteuer zahlen sollen, während auf kleine Einkommen 50 Prozent erhoben werden. Warum diese Bevorzugung der Wohlhabenden?
Das ist keine Bevorzugung, sondern ein Anreiz, mehr zu verdienen. Im Übrigen bleibt die soziale Symmetrie gewahrt: Bis zur 1.600-Euro-Grenze basiert das Bürgergeld-Modell letztlich auf einer Negativsteuer. Außerdem bezahlt darüber hinaus der, der mehr verdient, auch mehr Steuern. Das ist nun einmal so infolge der Prozentrechnung.
Verabschieden Sie sich vom Ziel der Vollbeschäftigung, das seit Gründung der Bundesrepublik gilt?
Ich sehe keine realistische Perspektive, Vollbeschäftigung kurz- oder mittelfristig zu erreichen. Teilzeitjobs und gering entlohnte Beschäftigungen gibt es hingegen jede Menge, auch wenn sie am Markt zurzeit nicht ausreichend angeboten werden. Abgesichert durch das Grundeinkommen würde es sich für die Menschen rechnen, auch geringer bezahlte Tätigkeiten verstärkt anzunehmen. Durch die Trennung von Sozialstaat und Arbeitsmarkt bekämen wir wieder einen dynamischen Arbeitsmarkt.
Welche Firmen würden solche neuen Stellen anbieten?
Im sozialen Bereich zum Beispiel bei der Kranken- und Altenpflege. Aber auch Handwerksbetriebe oder allgemein der Mittelstand haben Bedarf. Viele Betriebe brauchen Leute, finden aber niemanden, weil sie nur einen geringen Lohn zahlen können. Wenn sie mehr zahlen würden, rechnet sich diese Arbeit betriebswirtschaftlich nicht mehr.
Sie wollen den Niedriglohnsektor ausbauen?
Ich weiß, dass Gewerkschafter dabei graue Haare bekommen. Meine Erfahrung lehrt, dass in vielen mittelständischen Betrieben Arbeit nicht angeboten wird, weil sie nicht marktgerecht finanziert werden kann. Könnten wir das ändern, würden auch mehr Arbeitsplätze entstehen und der Staat mehr Steuereinnahmen erzielen.
In Ihrem Arbeitszimmer in der Erfurter Staatskanzlei hängt ein Kreuz. Beruht Ihr Vorschlag für das Grundeinkommen auf religiöser Überzeugung?
Neben dem Studium der Physik und Mathematik in der DDR habe ich mir die katholische Soziallehre angeeignet. Darin spielt der Gedanke eine große Rolle, Menschen zu unterstützen, die ihre schlechte Lage nicht selbst überwinden können. Maßstab und Orientierung für unser Handeln sollen Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit sein. Dieses Modell gewährt und garantiert Freiheit und ermöglicht Verantwortung für unser Gemeinwesen zu übernehmen. Die Gerechtigkeit verlangt von uns, Gleiches gleich zu behandeln, aber auch die Unterschiedlichkeit der selbst erarbeiteten Lebenssituation zu respektieren. So wird aus meiner Sicht Solidarität gelebt.
Ist es Zufall, dass die Idee des Grundeinkommens im ehemaligen Arbeiterparadies Ostdeutschland großen Widerhall findet?
Vielleicht fällt es aus dieser Richtung leichter zu erkennen, dass das soziale Sicherungssystem der alten Bundesrepublik nicht mehr zukunftsfähig ist. Es beruht vornehmlich auf der Erwerbsarbeit und wird über Lohnnebenkosten finanziert. Weil die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten unablässig zurückgeht, übersteigen die Ausgaben die Einnahmen bei weitem. Dabei sind die Herausforderungen der Demografie noch nicht berücksichtigt.
Die Union will bald den nächsten Versuch unternehmen, das alte System zu reformieren. Arbeitslose sollen einen staatlichen Lohnzuschuss erhalten, damit sie für Firmen attraktiver werden. Ein richtiger Ansatz?
Ich stehe hinter dem Koalitionsvertrag mit der SPD. Aber ich glaube nicht, dass wir mit unseren Reformen die bestehenden Systeme mittel- oder gar langfristig erfolgreich sichern können. Sie stammen aus den 1950er-Jahren und passen in ihrer Grundkonstruktion nicht mehr zur heutigen offenen Gesellschaft mit maximaler Freiheit, fragmentarischen Lebensläufen und demografischen Problemen. Die Menschen brauchen viel mehr Flexibilität, als wir ihnen zurzeit bieten können. Deshalb ist es notwendig, einen ganz neuen Ansatz zu verfolgen.
Sie wollen das Sozialsystem der alten Bundesrepublik abwickeln. Ist das ein Grund, warum Ihre Ideen bei Union und SPD, die dieses System tragen, so schlecht ankommen?
Die Volksparteien versuchen mit Korrekturen, die möglichst wenig schmerzen, aus der Misere herauszukommen. Die Korrekturen mögen gelingen, aber sie werden die grundsätzlichen Probleme Deutschlands nicht lösen. Deshalb haben die Menschen auch immer weniger Vertrauen in die Politik; es wird letztlich die Handlungsfähigkeit der Politik hinterfragt. Dieser Vertrauensverlust schadet der Demokratie.
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