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„Es ging um Leben, Leben, Leben!“

MYTHOS MITTE Schnappschüsse aus der Vorzeit – die Mauer war weg, der Kommunismus kaputt, die Investoren noch nicht in jede Ecke vorgedrungen. Eva Otaño Ugarte hat in ihren Fotografien einige Momente der vergessenen Nachwende von Berlin-Mitte festgehalten

„Imbiss an der Ackerstraße“, 1992, und „Besetzer aus der Fehrbelliner Straße“, 1994. Ausstellung „Berlin-Mitte Underground, 1991–1996“, bis 20. 11., Galerie ZeitZone, Berlin Foto: Eva Otaño Ugarte

VON ULRICH GUTMAIR

Ihre erste Berliner Currywurst aß Eva Otaño Ugarte im Osten, nachdem die Mauer weg war. „Der Imbiss an der Ackerstraße war der einzige, den es damals in der Gegend gab“, erinnert sie sich. Eva Otaño Ugarte ist Fotografin. Weil sie im Jahr 1992 in der damals eher verfallenen Gegend der Spandauer Vorstadt im ehemaligen Stadtzentrum Berlins lebte, hat sie den Imbiss an der Kreuzung von Invalidenstraße und Ackerstraße eines Tages fotografiert. Jetzt, fast zwanzig Jahre später, sitzt sie am Tresen der Galerie Zeit Zone in Berlin-Kreuzberg, wo sie heute wohnt. Das Foto vom „Imbiss an der Ackerstraße“ ist derzeit zusammen mit gut 20 weiteren Bildern in der Galerie zu sehen. Ihre Ausstellung hat die Fotografin „Berlin-Mitte Underground, 1991–1996“ genannt.

Eva Otaño Ugarte stammt aus San Sebastián im Baskenland, geboren wurde sie 1964. Im September 1989 war sie mit einer Freundin nach Berlin gekommen. „Wir wollten Urlaub machen, nach Prag fahren, den Ostblock sehen. Dann ist die Mauer gefallen und ich habe entschieden, ein Jahr zu bleiben, Deutsch zu lernen.“ Otaño Ugarte blieb wie viele andere in Mitte hängen, wo das lockere Regime der Zwischennutzung herrschte. Sie lebte in besetzten Häusern, arbeitete in den Clubs, besuchte die Bars und fotografierte. Auf einem ihrer Bilder parkt ein einsamer Trabi auf einer geflickten Straße irgendwo in Mitte. Eine kleine Serie zeigt Leute mit kurzgeschorenen Haaren und merkwürdigen Klamotten vor ihrem besetzten Haus in der Fehrbelliner Straße. Sie waren gerade geräumt worden, haben auf der Straße geschlafen und blieben trotzdem gut gelaunt. Später konnten sie wieder in ihr Haus einziehen. Daneben hängt eine Aufnahme von der Performancegruppe La Fura dels Baus im Theatersaal des Tacheles. Dazwischen das Bild vom längst vergessenen Imbiss an der Ackerstraße.

Ein bisschen düster sieht es aus, auf Otaño Ugartes Imbissfoto, an diesem Wintertag, 1992 in Berlin. Ein älteres Paar in Mänteln ist unterwegs, gleich wird es die Imbissbude passieren. Auf der Leuchtreklame der Ostbude prangen die Logos der Westberliner Schultheiss-Brauerei. „Tag & Nacht“ wird hier gegrillt.

Das Alte ist aus den Fugen

Das Foto vom Imbiss scheint so unspektakulär wie die Straßenecke, die es abbildet. Wie nebenbei bringt es das kollektiv Vergessene zum Vorschein. Denn bevor die alte Mitte Berlins Stein um Stein renoviert und als neues Berlin wiederaufgebaut und schließlich touristisch vermarktet werden konnte, geschah etwas, das zugunsten der Großen Erzählung von Untergang, Revolution und Neubeginn verdrängt worden ist – der Übergang selbst, die momentane Herrschaft reiner Gegenwart. Jener anarchische Augenblick, in der das Alte aus den Fugen gerät und das Neue noch nicht erkennbar ist. Auch wer die Ecke mit dem Imbiss kennt, wo eine junge Frau aus dem Baskenland ihre erste Currywurst aß, hat es nicht leicht, sich auf dem Foto zurechtzufinden: Heute stehen da, wo links und rechts der Ackerstraße einst Brachen lagen, Neubauten.

„Ein System ist kaputtgegangen, der Kommunismus, und nun kam ein neues System“, sagt Eva Otaño Ugarte über ihre Vergangenheit in Mitte. „Es war ein Übergang. Es war wie eine Wiedergeburt. Ich bin glücklich, dass ich das erlebt habe, ich fühle mich privilegiert.“ Warum aber gibt es so wenig Fotos aus dieser Zeit? Auch andere haben fotografiert, sagt Otaño Ugarte. Sie kamen von irgendwo her und sind längst wieder zu Hause, in England oder den USA. „Ich selbst hatte kein Geld, ich konnte kein Deutsch. Dann habe ich im Tacheles ein Jahr lang gearbeitet. Im Club unten im Keller, an der Tür. Ich habe die Kasse gemacht. Ich habe in einem besetzten Haus gewohnt für eine Weile. Das hat zum Leben gereicht, aber nicht, um Filme zu kaufen und zu entwickeln.“ Dreimal wurde ihr die Kamera geklaut. Eine davon fand sie später in einem Secondhand-Laden in der Friedrichstraße wieder. „Es war derselbe Laden, in dem ich sie 1990 gekauft hatte.“ Aber nicht nur die materiellen Umstände sprachen gegen das Fotografieren, sagt Eva Otaño Ugarte. „Es war nicht die Stimmung dafür, den Alltag zu fotografieren. Es ging um Leben, Leben, Leben! Die Leute haben eher künstlerische Fotografie gemacht. Die Realität zu fotografieren war nicht nötig. Für die Deutschen waren auch, glaube ich, andere Sachen wichtig. Sie wollten, dass sich alles schnell ändert.“

Eva Otaño Ugartes Bilder sind Schnappschüsse aus einem unkartografierten Territorium, aus der dunklen Zeit kurz nach 1989

Man war, wo man war

Otaño Ugartes Bilder stammen aus einer Vorzeit, die noch nicht einmal mythisch genannt werden kann, weil sie zu fragmentarisch, zu flüchtig und zu widersprüchlich war, als dass man sie in eine große Erzählung zwängen oder gar mit einem Gesicht versehen könnte. Wer glaubt, dass Sascha Lobo und die digitale Boheme Berlin-Mitte erfunden haben, soll sich Eva Otaño Ugartes Bilder anschauen. Sie zeigen die Ureinwohner Mittes, Leute aus der DDR, zu denen sich die United Nations of Mitte gesellen. Hausbesetzer, DJs, Künstler, Theaterleute, die es nach Mitte verschlagen hatte. Otaño Ugartes Bilder sind Schnappschüsse aus einem unkartografierten Territorium. Eine Flaschenpost aus der Temporären Autonomen Zone Mitte, zu deren Magistrale die Auguststraße wurde, weil sie die direkte Verbindung vom Kunsthaus Tacheles zum ebenfalls besetzten I.M. Eimer in der Rosenthaler Straße war.

Auf einem Foto von 1991 ist eine junge Frau abgebildet, die lachend die Auguststraße hinunterrennt. Ein Blick fällt aus dem Tacheles auf Häuser in der Oranienburger Straße, die dem Verfall nahe sind, als hätte die Rote Armee eben erst die Stadt erobert. Ein krakeliges Hakenkreuz ist zu sehen, das ein Neonazi auf das Trottoir am Weinbergspark gesprayt hat. Im wild bewachsenen Hinterhof eines besetzten Hauses schläft ein langhaariger Russe – im Morgenlicht vor einem heruntergebrannten Feuer sitzend – seinen Rausch aus. Auf einem anderen spricht ein junger Mann in die Muschel eines „freien Telefons“ in einem besetzten Haus. Es gab ja keine Handys, keine E-Mails und in den meisten Häusern noch nicht einmal Türklingeln. Man las die überall herumliegenden Flyer und gab die Nachricht weiter, wer wann und wo Platten auflegen oder seine Kunst zeigen würde. Man verabredete sich. Man war, wo man war. Irgendwer war immer da.

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