: In der Türkei gibt es jetzt eine Million syrische Flüchtlinge
BÜRGERKRIEG Untersuchungen zufolge rechnen die meisten von ihnen nicht mit einer Rückkehr
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Rund eine Million Flüchtlinge aus Syrien leben mittlerweile in der Türkei. Wie Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in einer Rede vor seiner Fraktion bestätigte, hat die Türkei entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, maximal 100.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, mittlerweile die Millionengrenze erreicht. Erdogan verteidigte die Aufnahme der Flüchtlinge und sagte: „Sollen wir unseren Brüdern den Rücken zukehren? Sollen wir ihnen sagen: sterbt in Syrien?“
Erdogan ist unter Druck, weil die Opposition und Teile seiner Partei die Politik gegenüber Syrien und die gesamte Nahostpolitik von Außenminister Ahmet Davutoglu und Erdogan als völlig verfehlt kritisieren. Die unzulässige Einmischung der Erdogan-Regierung in den Bürgerkrieg im Nachbarland, so Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, sei mit ein Grund, warum die Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien so angestiegen sei.
Während das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR offiziell 715.215 Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei registriert hat, ist die tatsächliche Zahl viel höher. Unter den registrierten Flüchtlingen sind knapp 300.000, überwiegend Frauen und Kinder, die in den im Grenzgebiet zu Syrien entstandenen Container- oder Zeltlagern leben. Diese Flüchtlinge werden von der türkischen Regierung vollständig versorgt, was den Staat jedes Jahr mehrere Milliarden Dollar kostet.
Mindestens weitere 700.000 Flüchtlinge leben jedoch im Land verteilt. Viele haben sich nicht registrieren lassen. So muss sich ein Registrierter an einem festgelegten Ort niederlassen – meist in Inneranatolien, wohingegen die Flüchtlinge lieber nach Istanbul oder Ankara gehen, weil es dort eher Arbeit gibt.
Inzwischen gibt es Untersuchungen über die Lage dieser untergetauchten Flüchtlinge. So haben zwei Universitäten aus Izmir Flüchtlinge in der Stadt und ihre türkischen Nachbarn befragt. Izmir ist die im Westen der Türkei gelegene Metropole an der Ägäis, die vom Bürgerkrieg in Syrien am weitesten entfernt ist. Die Leiterinnen der Untersuchung, die Professorinnen Ayselin Yildiz und Elif Uzgören, gehen davon aus, dass neben den 5.000 bekannten Flüchtlinge noch Tausende mehr in Izmir leben.
Eine Befragung hat ergeben, dass die meisten Flüchtlinge nicht damit rechnen, wieder nach Syrien zurückkehren zu können. „Optimistisch geschätzt“, heißt es in dem Bericht, „werden mindestens noch zehn Jahre vergehen, bis an eine Rückkehr überhaupt zu denken wäre.“ Doch bis dahin wird sich der Aufenthalt der meisten so verfestigt haben, dass sie nicht mehr zurückkehren wollen. Viele streben bereits jetzt die türkische Staatsangehörigkeit an, damit ihre Kinder zur Schule gehen und sie einer geregelten Arbeit nachgehen können.
Viele Bürger von Izmir sind zwar dafür, dass den Flüchtlingen aus humanitären Gründen geholfen wird, aber zugleich gegen eine schnelle Einbürgerung. Das hat mit der vermuteten Konkurrenz um Arbeitsplätze zu tun, ist aber auch eine politische Frage. Die Syrer gelten pauschal als Anhänger Erdogans, die auch aus wahltaktischen Gründen oft schnell einen Ausweis bekommen, damit sie zugunsten Erdogans abstimmen können.
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