: Mehr als durchgeknallte Dschihadisten
TERRORORGANISATION Boko Haram hat sich von einer kleinen radikalen Sekte zu einer starken Bürgerkriegsarmee entwickelt
BERLIN taz | Die nigerianische Terrororganisation Boko Haram in die durchgeknallte islamistische Ecke zu stellen, ist verlockend – und ein Zerrbild zugleich. Boko Haram hat sich seit der Entstehung vor zehn Jahren von einer kleinen radikalen Sekte zu einer starken Bürgerkriegsarmee entwickelt – aber in der Außenwahrnehmung dominiert noch immer das Selbstbild der Anfangsjahre ab 2004.
Damals war der Name Programm: Boko Haram heißt „Westliche Bildung ist verboten“, wobei „boko“ eine Verballhornung des englischen Wortes „book“ ist und „haram“ im Arabischen ein religiöses Verbot definiert. Die Gruppe entstand in der nordostnigerianischen Handelsmetropole Maiduguri als Sammelbecken für arbeitslose Absolventen lokaler Koranschulen, die von fundamentalistischen Predigern radikalisiert wurden.
2009 stürmten Nigerias Sicherheitskräfte in Maiduguri das weitläufige Boko-Haram-Hauptquartier, töteten Sektenführer Mohammed Yussuf und mit ihm zwischen 1.000 und 5.000 Zivilisten. Daraufhin ging die Sekte in den Untergrundkampf. Neues Leben schenkte den Islamisten Nigerias schmutziger Wahlkampf 2011, als Politiker aller Couleur sich Schlägertrupps zusammenkauften.
Das Paradox: Im muslimischen Norden Nigerias regieren zumeist Gouverneure aus der konservativen Opposition, die den den Islamisten gegenüber am unbarmherzigsten sind – und so stand Boko Haram eher aufseiten der auf nationaler Ebene regierenden, aber im Norden als Opposition auftretenden PDP (People’s Democratic Party) von Präsident Goodluck Jonathan. Seitdem hält sich in Nigeria hartnäckig die Wahrnehmung, Boko Haram habe mächtige Gönner in der PDP und im Staat.
Bestätigt wird diese Verschwörungstheorie dadurch, dass der seit einem Jahr geltende Ausnahmezustand im Nordosten des Landes und die damit einhergehenden Großoffensiven der Armee die Islamisten nicht geschwächt haben. Vielmehr haben die Islamisten ihre Aktivitäten ausgedehnt. Im schwer zugänglichen Bergwald Sambisa an der kamerunischen Grenze, der fast so groß wie Bayern ist, sollen sie uneinnehmbare Basen unterhalten. Eine weitere verbreitete Vermutung: Nigerias Generäle zerschlagen Boko Haram nicht, weil ihnen der Dauerkrieg gegen die Dschihadisten den höchsten Militäretat ihrer Geschichte beschert.
Fest steht: Boko Haram nützt vielen – außer der Bevölkerung. Dabei ist ihr als Psychopath auftretender Führer, Abubakar Shekau, der mit seinen bizarren und wüsten Videoauftritten das öffentliche Bild der Gruppe prägt, politisch gesehen nicht mehr als eine Witzfigur. Aber: Wäre Boko Haram wirklich so verrückt, wäre der Sieg gegen die Gruppe ein Kinderspiel. Oder ein Drohnenangriff. DOMINIC JOHNSON
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