: „Wir Deutschen sind oft die unzufriedensten Bürger in der EU“
DIE EUROPAABGEORDNETE Dagmar Roth-Behrendt ist die Grande Dame der SPD im Europaparlament. 25 Jahre hat sie dort Berlin vertreten, nach der Wahl am 25. Mai ist Schluss. Die 61-Jährige freut sich, dass verstärkt junge Menschen Abgeordnete in Brüssel und Straßburg werden, kritisiert scharf den Wegfall der Dreiprozenthürde und fragt sich, wann die Bürgerinnen und Bürger endlich die Bedeutung des Europaparlaments für ihren Alltag erkennen
■ Die Politikerin: Roth-Behrendt wurde 1953 in Frankfurt am Main geboren, wuchs in Hessen auf, studierte Jura und kam 1979 nach Berlin. Dort arbeitete sie erst als Rechtsanwältin, dann in der Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters. Vier Jahre war sie Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung Spandau, bevor sie 1989 ins Europaparlament kam.
■ Die Parlamentarierin: Sie hat sich vor allem in den Feldern Umwelt-, Verbraucherschutz- und Gesundheitspolitik einen Namen gemacht. In ihren 25 Jahren im Parlament war sie zweimal – von 2004 bis 2007 und von 2009 bis 2012 – eine von mehreren Vizepräsidentinnen und -präsidenten. Roth-Behrendt war maßgeblich an der Reform des Parlaments beteiligt: Sie leitete eine dafür wichtige Arbeitsgruppe. (sta)
INTERVIEW STEFAN ALBERTI FOTOS ANJA WEBER
taz: Frau Roth-Behrendt, als Sie vor 25 Jahren ins Europäische Parlament kamen, stand die Mauer noch und Helmut Kohl hatte weitere neun Jahre Kanzlerschaft vor sich. Wie fühlt sich das an, nun, da endgültig Schluss ist mit der Europapolitik?
Dagmar Roth-Behrendt: Ich bin am Gründonnerstag um 13 Uhr aus dem Plenarsaal raus und hab gewusst: Das war das letzte Mal, dass ich diesen Raum als Abgeordnete verlassen habe.
Und?
Das ist mir sehr schwer gefallen.
Dabei wirkt das Plenum zumindest auf Fernsehbildern immer so anonym, mit bloßen Nummern statt Namen vor den Abgeordneten.
Überhaupt nicht. Da herrscht eine ganz andere Atmosphäre.
Aber diese Nummern …
Wie wollen Sie das denn anders machen bei 780 Abgeordneten?
Der Deutsche Bundestag hat auch mehr als 600 Mitglieder.
Aber da sprechen alle dieselbe Sprache. Die Saaldiener im Europaparlament müssen wissen, wem sie was in welcher Sprache vorlegen. Und weil wir ja nicht vorne, sondern von unseren Plätzen aus reden, müssen die Dolmetscher auch immer genau wissen, wer spricht. Das ist mit den Nummern viel leichter.
Und auf was zu verzichten fällt Ihnen am wenigsten schwer?
Das Fliegen. Berlin, Brüssel, Straßburg, hin und her, und dann lange Zeit auch noch zu meinem Mann nach London. Das Zum-Flughafen-Rennen, verschobene oder ganz gestrichene Flüge, dadurch wegbrechende nachfolgende Termine. Und dann bin ich nicht unglücklich, künftig etwas mehr zeitliche Freiheit zu haben und nicht mehr dieses angespannte Korsett aus Terminen, die andere vorgeben.
Nun gelten sie als Perfektionistin, als eine, die sich freiwillig den Terminplan vollpackt.
Zugegeben: Es gibt sicher Kollegen, die das anders machen, um es mal freundlich auszudrücken. Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich immer Zwölf-Stunden-Tage habe. Mindestens.
Auf den SPD-Plakaten war bei fünf Europawahlen hintereinander Ihr Gesicht zu sehen, nun ist das von Sylvia Yvonne Kaufmann drauf abgebildet. In der Berliner SPD kann man hören, so ganz freiwillig würden Sie das Europaparlament nicht verlassen.
Das kommt darauf an, mit wem Sie reden. Wenn ich noch einmal hätte kandidieren wollen, dann hätte ich das auch gemacht. Und ich bin ziemlich sicher, dass ich auch nominiert worden wäre.
Schauen wir nach vorn: Glauben Sie, dass der jüngste parteiinterne Zwist um den Landesvorsitz negative Folgen für das Berliner SPD-Europawahlergebnis hat? Fraktionschef Raed Saleh hatte erst nach zwei Wochen Gerüchten und Debatte seine Vorstandsambitionen dementiert.
Ich hoffe nicht – aber ich befürchte es. Ich finde eine solche Diskussion so kurz vor der Europawahl entweder total gedankenlos oder ein Zeichen dafür, dass diese Wahl einem nicht wichtig ist. Und das ist respektlos. Und auch dumm.
Dumm?
Weil diese Wahl wichtig ist, wichtiger denn je. Denn die Stärke der sozialdemokratischen Fraktion wird darüber entscheiden, ob wir einen Anspruch herleiten können, mit Martin Schulz den Kommissionspräsidenten zu stellen. Wenn wir nicht die stärkste Fraktion werden, wird das sehr viel schwieriger werden.
Als Sie 1989 ins Parlament einzogen, sah das mit der Wichtigkeit der Europapolitik noch anders aus. Um mal einen Vergleich zwischen damals und heute anzustellen: wie zwischen einer Langspielplatte und MP3-Datei?
Ja, das kann man so sagen, zumindest in der Öffentlichkeit.
Wobei das Europaparlament in seinem Einfluss lange hinter der Kommission und dem Rat zurückblieb. Da war Brüssel oft Versorgungsposten für verdiente ältere Bundespolitiker: „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“, hieß es oft. Sie hingegen waren erst 36 Jahre alt und kamen aus dem Spandauer Bezirksparlament.
Ich war tatsächlich eine der Jüngsten – das hat sich seit damals sehr geändert. Man kann natürlich sagen, dass das nur passiert ist, weil man sich so ungeliebter junger Konkurrenz für das jeweilige nationale Parlament entledigt hat. Aber was den Einfluss angeht: Als mir die Grüne Claudia Roth, mit der ich im Europaparlament gut zusammen gearbeitet habe, Ende der 90er Jahre erzählte, dass sie für den Bundestag kandidieren würde, habe ich sie gefragt: „Claudia, warum machst du das? Hier hast du doch viel mehr Einfluss.“
Da könnte sie geantwortet haben: Eben nicht – weil das Europaparlament trotz aller Reformen, an denen Sie ja führend beteiligt waren, in seinen Befugnissen hinter dem Bundestag zurück bleibt.
Wieso?
Weil das Parlament beispielsweise zwar inzwischen den EU-Kommissionspräsidenten wählen, nicht aber vorher selbst einen Kandidaten benennen kann. Und Gesetzentwürfe darf nur die EU-Kommission einbringen.
Aber das ist ja nur scheinbar so. Natürlich können die Mitgliedsländer jemanden vorschlagen, der dem Parlament nicht gefällt. Aber der muss ja trotzdem von uns gewählt werden – und dann ist es nur die Frage, ob wir wirklich zusammenstehen und den oder die dann auch ablehnen. Und was das andere angeht: Ich habe in meinen Arbeitsbereichen ziemlich schnell volle Gesetzgebungskompetenz gehabt, im gesamten Umwelt- und Verbraucherschutzbereich. Das hat nur keiner gewusst – und es wissen ja auch heute noch viele nicht. Ich bekomme immer noch Anfragen, wann das Europaparlament mal was entscheiden dürfe.
Frappierend ist bloß: Je mehr Bedeutung das Parlament hat, umso mehr sinkt die Wahlbeteiligung: von bundesweit 66 Prozent 1989 auf zuletzt 43 Prozent, in Berlin sogar nur 35 Prozent.
Das ist total irre.
Wieso passiert das?
Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung. Wenn es wirklich eine Frustration gibt in meinem Leben, dann ist das nicht mit meiner Partei – die hab ich immer ziemlich lieb gehabt und die hat mich auch immer gut behandelt. Aber was mich richtig frustriert, ist, dass die Menschen die Bedeutung des Europaparlaments für ihr eigenes Lebens gar nicht wahrnehmen: Mindestens zwei Drittel der für den Alltag relevanten Regelungen beschließen wir in Brüssel und Straßburg. Deswegen fände ich es zwar schön, wenn am 25. Mai alle SPD wählen – aber noch wichtiger ist mir, dass die Leute überhaupt zur Wahl gehen und Parteien wählen, die nicht populistisch oder faschistisch sind.
Wie erklären Sie sich, dass die Wahlbeteiligung in Berlin noch mal um fast ein Fünftel geringer ist, trotz aller Internationalität?
Auch da weiß ich nicht, woran es liegt. Ich kann schlicht nicht verstehen, dass wählen gehen kein Grundbedürfnis ist.
Parteien wie die AfD versuchen mit einer Anti-EU-Kampagne Stimmen zu gewinnen – und sind damit erfolgreich, wenn die Umfragen stimmen. Warum kommt Brüssel-Bashing so an?
Für uns Deutsche ist das Glas ja sowieso immer halb leer und nicht halb voll. Wir sind schon oft die unzufriedensten Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union. Und wir neigen dazu, auf Eliten draufzuhauen, vor allem in der Politik. Interessant ist ja auch, dass dieses Draufhauen oft einhergeht mit völlig fehlender Information über das, was in Brüssel tatsächlich passiert – Hauptsache, erst mal fest drauf.
Der rot-schwarze Berliner Senat ist wiederholt in der Kritik, Millionen aus den diversen EU-Fördertöpfen nicht abzurufen. Was läuft denn da falsch?
Das nicht vollständige Nutzen von Fördermitteln ist überall in der Europäischen Union ein Problem. Es hat meistens zwei Gründe, und die stecken wahrscheinlich auch hier in Berlin dahinter. Zum einen gibt es die Fördermittel nur, wenn das Land oder ein anderer Empfänger noch mal denselben Betrag dazutut, die sogenannte Kofinanzierung. Das ist auch gut, denn EU-Mittel sollen ja sinnvolle Projekte unterstützen, bei denen man auch bereit ist, eigenes Geld zu investieren …
… wenn man es denn hat.
Das ist natürlich Voraussetzung. Zweiter Grund ist die Frage: Wer ist zuständig, darüber zu informieren, dass diese Mittel überhaupt da sind? Das war in der Vergangenheit in Berlin manchmal ein bisschen kompliziert. Aber das hat sich schon sehr verbessert. Ich glaube, es gibt in den meisten Senatsverwaltungen ein hohes Maß an Wissen über die Fördermittel. Und ich bin auch beeindruckt, wie gut die Europa-Referenten in den Bezirken sind.
Ist es im Europaparlament schon mal vorgekommen, dass Sie fraktionsübergreifend mit Berliner Kollegen wie Michael Cramer (Grüne) oder Joachim Zeller (CDU) versucht haben, Berliner Interessen durchzusetzen?
Na klar. So wie es in jeder Gesetzgebung regionale oder Überzeugungsbündnisse gibt, die sich nicht immer an Fraktionsgrenzen orientieren. Es gibt ja nicht immer eine linke oder eine rechte Mehrheit. Nehmen wir mal ein aktuelles Thema im Verbraucherschutz: Pollen im Honig. Da stimmen vielleicht sozialdemokratische Engländer nicht mit mir, weil ihre Imker zu Hause möglicherweise enger mit der Industrie verbandelt sind – aber ich kriege Unterstützung von konservativen Schweden.
Das mit dem Finden von Mehrheiten wird ja nicht leichter, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Dreiprozenthürde gekippt hat. Manche sagen, das Parlament werde dadurch vielfältiger, für andere wird es zersplitterter.
Zersplitterter wird es sein, weil das Verfassungsgericht leider über Dinge entscheiden darf, von denen es nichts versteht …
… sagen Sie, die Sie selbst Juristin sind.
Ich finde es falsch zu glauben, dass man keine Richterschelte betreiben darf – das ist nicht mehr zeitgemäß. Auch oberste Richter sollten kein Schutzbiotop haben, sondern sich rechtfertigen müssen wie Politiker auch.
Was ärgert Sie denn genau dabei?
Richter, die die Abschaffung der Hürde mit der Begründung unterstützt haben, es sei egal, welche Mehrheiten es im Europaparlament gebe, weil es ja keine Regierung wähle, zeugen davon, dass diese Leute die Arbeit und Systematik des Parlaments nicht erfasst haben. Vielleicht war das aus Zeitgründen so – ansonsten wäre es ein wirklicher Skandal. Dieses Urteil wird das Parlament verändern, aber nicht zum Guten. Und mit mehr Demokratie hat das gar nichts zu tun.
Warum?
Es nützt den Bürgerinnen und Bürgern nichts, wenn sie Vertreter von Gruppierungen im Parlament haben, die das Europaparlament als verlängerten Arm der nationalen Gesetzgebung verstehen. Das ist es eben nicht – ich mache keine Gesetzgebung für Berlin! Ich mache Gesetzgebung für 28 Länder und mehr als 500 Millionen Menschen. Dass ich natürlich meinen Berliner Rucksack immer mit mir rumtrage und – zugereiste, aber immerhin seit 35 Jahren – Berlinerin bin, ist klar. Aber ich muss Gesetzgebung verantworten, die auch in Portugal umsetzbar ist.
Wenn Sie vom Parlament reden, sagen Sie weiter „wir“, Sie reden im Präsens. Sie bekommen doch einen Kollaps, wenn Sie ab Juli von hundert auf null runterfahren und das nicht irgendwie kompensieren – wie ein Spitzensportler, der gar nicht abrupt aufhören darf, sondern langsam abtrainieren muss. Also: Was kommt nach 25 Jahren Europaparlament?
Da ist die einzige wirkliche ehrliche Antwort: Ich weiß es nicht. All die Leute, die sagen, sie hätten 1.000 Sachen, die sie dann machen würden: Garten, singen und dies und das – das ist alles Quatsch. Das sind alles Sachen, die man mal gerne macht. Aber das entspricht doch intellektuell null den Herausforderungen, die man vorher gewöhnt ist. Eines weiß ich aber ganz genau: Ich werde nicht Lobbyistin werden.
Das ist ja jeder, der sich für eine Sache oder eine Gruppe einsetzt, und mag sie noch so gut sein, auch im Umwelt- und Verbraucherschutz.
Klar, Sie haben recht, lassen Sie es mich genauer sagen: Ich werde nicht bezahlte Türöffnerin für eine Gruppe werden, ob es eine NGO ist oder ein Verband.
Wenn Sie es nicht wissen, was Sie tun beziehungsweise, um im Bild zu bleiben, wie Sie abtrainieren wollen: Was würden Sie sich denn als künftige Aufgabe wünschen?
Ich wünsche mir, dass unser SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz Kommissionspräsident wird. Und dann würde ich ihm gerne helfen, so wie bisher in seinem Amt als Parlamentspräsident, aber nicht als Beamtin oder in einem Abhängigenverhältnis.
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