MOSKAU DARF SICH ÜBER VORWÜRFE IM FALL LITVINENKO NICHT WUNDERN: Mord und Totschlag als Alltäglichkeiten
Der Tod des Exgeheimdienstlers Alexander Litvinenko kam in Raten. Darüber dürfte der Kreml nicht eben glücklich sein. Denn Russland kann sich auch ohne den neuen Fall kaum vor negativen Schlagzeilen retten. Mord und Totschlag gehören zum Alltag. Ob im Falle der kritischen Journalistin Anna Politkowskaja oder Litvinenkos: Die Hand des Kremls wird hinter schlechthin allen Ereignissen mit Todesfolge vermutet. Auch wenn es keine Beweise für seine direkte Involvierung gibt.
Darüber darf sich Moskau nicht beklagen. Es ist die logische Konsequenz eines Regimes, das alle Gegner mundtot gemacht hat und sich auf nichts anderes stützt als die Loyalität von Geheimdienst-und Sicherheitsorganen. Diese beherrschen das Land, ohne es jedoch im Griff zu haben. Denn sie sind zerstritten und zerfallen in Clans mit rivalisierenden ökonomischen Interessen. Diese dürften dem flüchtigen FSBler zum Verhängnis geworden sein. Denn Litvinenko war kein Auslandsspion, der durch die Flucht gegen Patriotismus und Korpsgeist verstoßen hätte. Litvinenko war Ermittler im Innendienst, der kriminellen Machenschaften und Wirtschaftsdelikten nachspürte. Dem FSB wurde er zwar zugeordnet – aber eigentlich gehörte er nicht dazu. Ebendies machte seine Kenntnisse und Einsichten für die herrschende Schicht gefährlich.
Die geplante Ermordung des Oligarchen Boris Beresowski und die barbarische Sprengung von Wohnhäusern lastete er dem FSB an. Der Tod von 200 im Schlaf in die Luft gejagten Bürgern diente als Anlass des zweiten Tschetschenienkrieges und als Auftakt des Triumphzugs des Exgeheimdienstlers Wladimir Putin in den Kreml.
Die Vorwürfe sind nicht aus der Luft gegriffen. Litvinenkos ermittelnder Kollege Michail Trepaschkin büßt für seine Nachforschungen in einem Arbeitslager. Bewiesen ist gleichwohl nichts. Doch so viel ist klar: Das System Putin verhindert die Beweisaufnahme. Wenn es auf dem EU-Russland-Gipfel gestern zu keiner zukunftsweisenden Neuauflage der Partnerschaft kam, so treffen Zufall, Omen und logische Konsequenz zusammen. Moskaus Politik droht, auch jene zivilen Standards zu unterlaufen, denen sich selbst die UdSSR noch verpflichtet fühlte. KLAUS-HELGE DONATH
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