: „Europa eine Seele geben“
Zu Besuch in der geschlossenen Gesellschaft der EU-Parlamentarier: Hinter der Sicherheitsschleuse befinden sich die Bühnen, auf denen um Europa von morgen gerungen wird. Hier geht es konkret um die Zahl der Werbeminuten im Privatfernsehen oder allgemein um Bildungschancen und Bürgerrechte
Aus Brüssel Klaus Wolschner
Was würde eigentlich fehlen, wenn es das Europäische Parlament nicht geben würde? Helga Trüpel, grüne Abgeordnete aus Bremen, rotiert seit zwei Jahren zwischen Bremen, Straßburg und Brüssel. Sie hat in ihrem kleinen Büro in der achten Etage des riesigen Verwaltungs-Komplexes in Brüssel sieben Minuten Zeit, das zu erklären, dann muss sie weg – acht bis zehn Termine stehen an einem normalen Brüsseler Arbeitstag in ihrem Kalender. Nach der kurzen morgendlichen Jogging-Runde geht es durch die Sicherheitsschleuse in die voll klimatisierte Welt des Parlaments-Gebäudes. Dreitausend und mehr Menschen bewegen sich dort hin und her, eilen von Sitzung zu Besprechung, da ist für die meisten bis abends kaum ein Herauskommen. Und dann ist wirklich die Luft raus.
Auf die Frage, was das soll, antwortet Helga Trüpel mit einer kleinen Anekdote: Da war eine Besuchergruppe aus Berlin in Brüssel, reckte sich die Hälse vor der 15 Stockwerke hohen Glas- und Beton-Fassade. Einer bemerkt kritisch: „Das haben wir alles bezahlt.“ Ein anderer Besucher kontert: „Wenn die Kriege führen würden, wäre das teurer.“
„Europa eine Seele geben“, das ist das Stichwort. Die Menschen dürfen Europa nicht mit Bürokratie, Fördertöpfen und Stilllegungsprämien identifizieren. Vergeblich hat Trüpel deutlich mehr Geld für die europäische Kulturarbeit gefordert. „Wie sollen wir die BürgerInnen Europas erreichen wenn nicht durch mehr Kultur?“ Das meint kulturellen Austausch im engen Sinne, aber auch Kultur im gesellschaftspolitischen Sinne.
Folgenloses Gerede? Macht durch Kommunikation
In dem EU-Koloss tagt irgendwo in der fünften Etage des G-Traktes der Ausschuss „Kultur und Bildung“. Da berichtet gerade ein spanischer Vertreter, dass in seinem Land das Studium viel zu sehr auf Pauken aufgebaut ist. Andreas Schleicher von der OECD hat die internationalen Pisa-Ergebnisse vorgestellt: China, sagt der Referent, wird in zehn Jahren mehr qualifizierte Hochschulabsolventen haben als ganz Europa zusammen. Der Ausschuss arbeitet an Empfehlungen, wie die Länder der EU bei der demografischen Entwicklung ein wenig gegensteuern können und was sie für die Bildungschancen ihrer Bevölkerung tun müssen. Es soll auch EU-Töpfe der EU-Kommission geben, um Anreize zu schaffen, vorbildliche Projekte zu belohnen, aber damit allein wird nicht viel bewegt. Helga Trüpel ist Vize-Ausschussvorsitzende für Kultur und Bildung, meldet sich, fragt den Pisa-Experten, was denn die EU tun könne, um Länder wie Deutschland zu einer Modernisierung ihrer Bildungspolitik zu bewegen. Klare Antworten kann es auf solche Fragen nicht geben. Im Europäischen Parlament wird vor allem geredet, immer und immer wieder. Auf den ersten Blick erscheint ein folgenloses Gerede. Aber die Art, die Probleme zu definieren, scheint sich über alle nationalen Grenzen hinweg anzugleichen. Wenn die Abgeordneten diese Debatte mit ihren Problemstellungen in ihre Länder tragen, dann gäbe es so etwas wie eine europäische Kommunikation – fokussiert auch im Europäischen Parlament.
Macht, etwas durchzusetzen, haben die Abgeordneten in solchen Fragen nicht. „Europa“, das ist auf den Fluren des Parlaments das Sprachen- und Stimmengewirr, und bei Entscheidungsverfahren ist das der mühsame Versuch, zwischen den 25 Ländern mit ihren Parteien einen gemeinsamen Nenner zu finden. Selbst Lobby-Gruppen haben es schwer, da eindeutige Wirkung zu erzielen. Sie können nur durch Überzeugung wirken, national verengte Diskussions-Horizonte aufbrechen.
Wie kommt die Schleich- Werbung in die Glotze?
Zum Beispiel bei der Fernsehrichtlinie. Seit anderthalb Jahren ist das Papier in Arbeit, es geht um die schlichte Frage, wie weit „product placement“ (Schleichwerbung) in der EU erlaubt werden soll, ob bei „verkauften“ Sportereignissen Kurznachrichten frei zugänglich sein sollen und ob private Sender mehr Möglichkeiten der Werbung in ihren Sendungen bekommen. Die Beratungen gehen in die letzte Runde, Bernd Neumann, der deutsche Kulturstaatssekretär, ist nach Brüssel gekommen, um Einfluss zu nehmen. Eigentlich sei er gegen Schleichwerbung, sagt er in einer internen Runde, die Grüne Helga Trüpel nickt, ist ganz auf seiner Seite. Aber das sei wohl nicht durchzusetzen, nicht einmal in der konservativen Fraktion des Europäischen Parlaments, fasst Neumann das zusammen, was ihm von seinen EU-Spezialisten berichtet worden ist. Also müsse man versuchen, die Kriterien für Ausnahmen streng zu fassen. Für Kindersendungen insbesondere. Bei den Werbezeiten wollte der Kulturausschuss die strenge Regelung beschließen, dass nur alle 45 Minuten eine Werbeunterbrechung sein darf. Die privaten Fernsehsender bräuchten mehr Werbeplätze für ihr Überleben, sagt Neumann. Die US-amerikanische Konkurrenz mit ihren Werbemöglichkeiten steht im Hintergrund. Die konservativen Vertreter haben sich aus dem Konsens des Kulturausschusses schon entfernt. Selbst ein deutscher Kultur-Staatsminister ist da nicht mehr als ein Korken, der auf der Welle tanzt. Aber gleichzeitig ist klar: Die einzige Chance europäischer Länder, gegenüber Hollywood eigene Standards zu definieren, liegt in der europäischen Einigung.
Deutlich ist das auch bei dem Ausschuss, der sich mit der Aufklärung der illegalen Gefangenen-Transporte des CIA über europäische Flughäfen befasst. Die USA blockieren die Aufklärung, die nationalen Regierungen sind verstrickt oder trauen sich nicht, dennoch reden die Parlamentarier in Brüssel Stunde um Stunde über alle verfügbaren Details. Kürzlich war Murat Kurnaz da und wurde angehört. Wirkliche Macht haben sie nicht, das wird da deutlich, aber ist nicht die öffentliche Rede auch ein Stück Macht? Wenn es gut geht, baut sich da ein europäischer Konsens auf: Das EU-Parlament traut sich etwas, das sich keine nationale Regierung trauen würde. Zeigt den USA die Stirn und definiert, was im Rahmen europäischer Kultur unter Rechtsstaatlichkeit verstanden werden soll.
Raumschiff Europa
In der Welt des Europäischen Parlaments in Brüssel sind die Übersetzer die größte Statusgruppe. Portugiesisch muss in finnisch übersetzt werden und dänisch in polnisch, ein unvorstellbarer Akt der Völkerverständigung. Und es gibt in fast jeder Frage unterschiedliche Gewohnheiten, nationale Traditionen. Das macht den Prozess der Verständigung auf gleiche Standards so mühsam – und so unpopulär bei allen, die die nicht an den kleinen Schritten beteiligt sind. In Brüssel reist jeden Dienstag eine europäische Elite an, eine Schar von ein- oder zweitausend Abgeordneten, Mitarbeitern, Assistenten, für die Europa schon Realität ist – das Sprachengewirr, der Sektempfang mit türkischen und spanischen Kollegen, der Austausch der Kulturen. Die CIA-Transporte über den irischen Flughafen Shannon sind genauso wichtig wie die über Ramstein. Die voll klimatisierte und nach innen hektische, nach außen geschlossene EU-Gesellschaft ist eine völlig andere Welt als die „draußen“.
Kommunismus mit goldenen Löffeln
„Ich hatte gerade 45 Minuten für die Verbotene Stadt“, sagt Helga Trüpel, die grüne Europaabgeordnete aus Bremen. Vier Tage Peking standen auf ihrem Terminkalender Anfang November. Offizielle Gespräche, inoffizielle Gespräche, da bleibt für das touristische Pflichtprogramm keine Zeit. Was trieb die Delegation des Europäischen Parlaments in China, was ist da die Rolle der europäischen Parlamentarier?
Außenpolitik kommt in letzter Zeit im Kontext der EU normalerweise im Konjunktiv vor. Wenn Deutschland am 1. Januar für sechs Monate die „Ratspräsidentschaft“ übernimmt, müsste die deutsche Kanzlerin Angela Merkel eine europäische Initiative Richtung Gaza unternehmen, sagt Daniel Cohn-Bendit, Sprecher der Grünen-Fraktion. Sonst kommt auch der Libanon nicht zur Ruhe. „Müsste“. Gegen solche Sätze kann die Realität nur scheitern. Europäische Außenpolitik gegenüber China? Da wo selbst die Regierungen nicht auf einen Nenner kommen, sind die Parlamentarier erst recht machtlos.Zu sagen haben sie jedenfalls nichts. Oder gerade doch?
Die Abgeordnete Trüpel jedenfalls würde heftig widersprechen. Trüpel gehört zu der für China zuständigen Kontaktgruppe im Europäischen Parlament. Und die muss keine diplomatischen Rücksichten nehmen. Sie hat die Frau eines unter Hausarrest stehenden Dissidenten besucht, hinter die freundliche Maske der Repression geschaut. Ein symbolischer Akt, der in das andere China führt. Entsetzt erzählt die Abgeordnete, wie ein junger chinesischer Wirtschafts-Funktionär, der an der London School of Economics studiert hatte, der EU-Delegation erklärt hat, das mit der Demokratie in Europa sei doch gescheitert. Jedenfalls sei es nichts für China, da gehe es um Fortschritt. Europa kriselt, China hat 16 Prozent Wachstum in einem Jahr – noch Fragen?
Die Gäste aus Europa werden zu Banketten eingeladen, auf denen mit goldenem Besteck erlesene Speisen serviert werden – die kommunistischen Funktionäre lassen es sich gut gehen.
Helga Trüpel weiß, dass Parlamentarier mit ihren kritischen Positionen in einer Minderheitenrolle sind in der europäischen Politik – die Staatschefs wollen die Frage der Menschenrechte nicht zur Belastung für gute wirtschaftliche Beziehungen machen. Sie sagt dennoch in aller Klarheit ihre Meinung, ohne diplomatische Schnörkel. Auch wenn es nicht viel nützt, machtpolitisch gesehen – Europa ist eben auch ein Stück politischer Kultur. Und vielleicht hinterlässt es doch einen Eindruck, wenn Chinas Machthaber zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Vertreter der europäischen Völker anders denken als die diplomatischen Staatsgäste.
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