: Einmal Reet, immer Reet
TRADITION Kaum etwas wirkt in der Architektur so nordisch wie Reetdächer. Sie zu decken ist zwar kein eigener Beruf, aber eine Kunst. Beliebt ist sie beim Nachwuchs nicht. Dabei bietet sie durchaus wirtschaftliche Perspektiven
VON FRIDA KAMMERER
Je weiter man in den Südosten Hamburgs fährt, um so mehr prägt sich ein Bild ein: die endlose Leere und Länge der Deiche – und die Reetdachhäuser. In den abgelegensten Gegenden der Stadt, wo höchstens stündlich ein Bus hinfährt, stehen die Häuser wie gemalt in der Landschaft. Immer in gebührendem Abstand zueinander, denn 30 Meter müssen zwischen den Dachgiebeln liegen. Wegen der Brandgefahr.
Alle 30 bis 50 Jahre müssen die kleinen Kunstwerke erneuert werden, dann wird das alte Reet porös. Es vermoost und muss ausgetauscht werden. Einfach das Deckmaterial wechseln geht meist nicht, denn das Dach muss einen speziellen Winkel für das Reet haben, damit das Wasser ablaufen kann. Für Schindeln oder Dachpfannen ist ein solcher Dachstuhl nicht geeignet.
Fred Rensner ist Reetdachdecker aus Drage in der Elbmarsch. Mit seinen beiden Kollegen deckt er ein Dach in Neuengamme, in den Vierlanden. Rensner steht auf einer kleinen Leiter, deren Haken im Reet verschwinden, und zündet sich eine Zigarette an. Ist das nicht gefährlich, offenes Feuer neben trockenem Schilf? „Nein, das Reet ist heute mit Steinsäure behandelt. Das ist nur sehr schwer entflammbar“, sagt Rensner.
Der 48-Jährige ist eigentlich gelernter Heizungsmonteur. Als er keine Arbeit fand, hat er sich etwas Neues gesucht und fing als Dachdecker an. Heute gibt es immer noch großen Bedarf an Reetdachdeckern. Es ist kein eigenständiger Lehrberuf, man kann keine Meisterprüfung ablegen. Wer Reetdachdecker werden will, muss in einen normalen Dachdeckerbetrieb lernen.
Dabei ist Reet ein recht beliebtes Naturmaterial: Das Schilf isoliert gegen Kälte im Winter und gegen Hitze im Sommer. Die Lebensdauer eines Reetdaches hängt von vielen Faktoren ab: von der Qualität des Reets, von der Lage des Hauses – und natürlich von der Verarbeitung.
Ein komplettes Reetdach kostet zwischen 25.000 und 40.000 Euro. Dabei kann es vorkommen, dass man das Dach dreimal im Leben neu decken lassen muss. Wenn man unter dem Reet noch eine Dämmung anbringt, verdoppelt sich der Preis, dann kostet der Quadratmeter leicht 155 statt 80 Euro.
Ein Reetdachhaus müsse nicht mehr kosten als eines mit Dachpfannen, sagt Christian Schmid-Burgk von der Verbraucherzentrale Hamburg. In ländlicheren Gegenden seien nicht selten sehr große Grundstücke dabei, oft seien es alte Bauernhöfe. Die Häuser stünden oft auch in Ferien- oder Seegegenden, wo die Grundstücks- und Hauspreise grundsätzlich höher seien. Auf Sylt kostet ein Reethaus auch mal drei Millionen Euro. Schmid-Burgk verweist aber vor allem auf die Zusatzkosten: Die Versicherung für das Haus ist prinzipiell teurer.
Das Reet, das Rensner heute verarbeitet kommt aus Rumänien, wie etwa die Hälfte des in Deutschland verarbeiteten Materials. Etwa zehn Prozent stammen aus der Türkei und China. Wichtig sei, so Rensner, dass das Reet etwa aus denselben Breitengraden stamme, damit es an das Klima „gewöhnt“ ist. Sonst hält es unter Umständen kürzer.
In Deutschland wird nur noch auf den Inseln Reet angebaut. Dort behält man das Reet aber für den Eigenbedarf, denn auf den Inseln gibt es fast nur Reetdächer. Auf Sylt, zum Beispiel in Kampen, gibt es Reetdachverordnungen: Dort darf man sein Dach nicht mit anderen Materialien decken.
Hersteller von Chemikalien, mit denen man sein Reetdach vor möglichen Schädlingen schützen kann, warnen davor, dass durch Import-Reet aus fremden Ländern Schädlinge eingeschleppt werden könnten, die in Deutschland keine natürlichen Feinde haben. Wissenschaftlich nachgewiesen wurden diese Thesen bisher nicht. Schädlinge im Reet kämen nur äußerst selten vor, sagt Rensner.
Gefahr droht vielmehr aus der unmittelbaren Nachbarschaft: „In Regionen mit intensiver Landwirtschaft stellen wir fest, dass drei Viertel der Reetdächer, die in den letzten 15 Jahren gedeckt wurden, innerhalb von zehn Jahren verrotten“, sagt Gunter Schlechte, Sachverständiger für Angewandte Mikrobiologie in Bockenem bei Hildesheim. Er beobachtet diese Entwicklung seit sieben Jahren – seitdem werde durch Massentierhaltungsställe oder durch überdüngte Felder in besonderem Umfang lufttransportiertes Ammoniak freigesetzt. Braun- und Weißfäulepilze verbreiten sich durch das hohe Stickstoffangebot auf den Dächern und führen dazu, dass das Reet aufweicht.
Da es momentan trocken ist, kann Rensner das Dach problemlos decken. Zuerst legt er einen Bund Reet auf das Dach. Mit dem Vorstecher, einer Art Metallstange, steckt er es fest. Dann kann er die Schnüre durchschneiden, die das Reet noch zusammenhalten und das Schilf verteilen. Danach legt Rensner den Schachtdraht darüber, der parallel zu den Dachlatten läuft. Schließlich fädelt er einen dünneren und flexibleren Draht – den Bindedraht – durch eine Art riesige Rundnadel. Bei Dachdeckern heißt sie „krumme Nadel“. Mit der „geraden Nadel“, die aussieht wie eine ellenlange Häkelnadel, zieht er den Draht unter dem Reet heraus. Der Draht wird mit sich selbst verdreht, dreimal festgezogen und abgeknipst. Eine sehr anstrengende Arbeit, auch wenn das Reet selbst nicht sonderlich schwer ist.
Um den Nachwuchs sieht es wohl auch dieses Jahr wieder bescheiden aus. Reetdächer decken ist nicht sonderlich beliebt bei Lehrlingen, denn das alte Reet muss abgerissen werden, bevor das neue auf das Dach kann. Manchmal muss der Dachstuhl noch ausgebaut werden, also altes Material wie Backsteine abgeschlagen werden.
Dabei wird Nachwuchs dringend benötigt: An der Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark beauftragen die deutschen Reetdachhausbesitzer schon dänische Handwerker, obwohl diese einen vielfach höheren Stundenlohn verlangen. Sich auf Reetdächer zu spezialisieren, könnte sich also lohnen, denn immer noch werden auch Neubauten mit Reet gedeckt.
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