: Nach der Bescherung die Armutsschere
Zum Jahresausklang mehren sich wieder die Stimmen, die einen Kurswechsel in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik einfordern. Schleswig-Holstein preist Projekt für türkische Mädchen an, DGB fordert Mindestlohn statt Ein-Euro-Jobs
Die Bescherung ist vorbei. Während der Einzelhandel sich noch über seine Weihnachtsumsätze freut, werden auch Stimmen laut, die an die Schattenseiten des Konsums erinnern. Für das kommende Jahr mahnen norddeutsche Kirchen, Gewerkschaften und Politiker eine Politik an, die das weitere Auseinanderklaffen von Arm und Reich verhindert. Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) appellierte daran, Langzeitarbeitslose und Migranten in die Mitte der Gesellschaft zurückzuholen, „wenn nicht dauerhaft große gesellschaftliche Konflikte bis hin zu steigender Kriminalität die Folge sein sollen“.
Hamburgs DGB-Chef Erhard Pumm (SPD) forderte strukturelle Veränderungen, um „die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen und auch Langzeitarbeitslosen eine Chance zu geben“. Uwe Döring (SPD), Arbeitsminister von Schleswig-Holstein, pries in dem Zusammenhang ein neues Projekt an, durch das vor allem türkischstämmige Mädchen an moderne Berufe herangeführt werden sollen.
Das Projekt wird in Kiel, Lübeck, Bad Oldesloe und Neumünster mit Fördermitteln aus dem Europäischen Sozialfonds umgesetzt. Sozialarbeiter sollen in Familien und Schulen eine größere Aufgeschlossenheit einzelnen Berufsgruppen gegenüber erreichen. Gerade türkischstämmige Mädchen, so Döring, wählten unter 180 Ausbildungsberufen nur acht aus, meist einfache Dienstleistungen. „Damit bleibt ihnen die ganze Palette moderner Berufe völlig verschlossen.“ Fast jeder zweite Jugendliche aus Einwandererfamilien finde nach der Schule keinen festen Job.
Der DGB Hamburg hat 2006 als „verlorenes Jahr für die meisten Arbeitslosen und Hartz IV-Empfänger“ bezeichnet. Pumm forderte einen „ehrlichen zweiten Arbeitsmarkt“. Öffentlich geförderte Beschäftigung mit sozialversicherungspflichtigen Stellen auf der Basis von mindestens 7,50 Euro könnten Ein-Euro-Jobs ersetzen. Auch in der Bildungspolitik verlangte er einen Kurswechsel: „Unser Schulsystem aus dem vorletzten Jahrhundert basiert auf früher Auslese statt auf Chancengleichheit durch individuelle Förderung.“
Verschärfend komme hinzu, so Landespastorin Annegret Stoltenberg, dass die soziale Infrastruktur von Bücherhallen bis Freizeitmöglichkeiten systematisch zusammengespart wurde. „Hier ist eine nachhaltige Politik notwendig, die den Menschen vor Ort spürbare Verbesserungen ihrer Lebenssituation bringt.“ DPA/TAZ
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