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Tayyip Erdogan muss sich entscheiden

In der Türkei wird in diesem Jahr gewählt. Religiöse und Säkularisten liegen darüber in einem heftigen Streit

ISTANBUL taz ■ Anfang kommender Woche wird sich die türkische Regierungspartei AKP zu ihrem jährlichen Parteikonvent treffen. Anders als in früheren Jahren stehen dieses Mal schwierige Entscheidungen an. Seit fast fünf Jahren regiert die islamisch geprägte konservative Volkspartei von Ministerpräsident Tayyip Erdogan nun das Land und schickt sich damit an, die erste Regierung seit den 80er-Jahren zu werden, die eine volle Legislaturperiode durchhält.

Die Partei könnte aus einer Position der Stärke in das Wahljahr gehen, doch dies ist nicht der Fall. Die Regierung ist hochnervös, die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition redet vom bevorstehenden Untergang der Republik und richtet bereits Hilfe suchend ihren Blick auf das Militär. Die Armee, so wird gemunkelt, wird es nicht hinnehmen, dass die Republik Atatürks den Islamisten anheim fällt. Die säkulare Substanz des Landes müsse gewahrt bleiben.

Anlass für die steigende Spannung sind die Präsidentschaftswahlen im April. Der Staatschef wird vom Parlament gewählt und dort verfügt die AKP fast über eine Zweidrittelmehrheit. Niemand könnte sie also daran hindern, Ministerpräsident Tayyip Erdogan im April zum Präsidenten zu wählen. Doch dann wäre Erdogan nicht Präsident des ganzen Volkes. Die Spaltung zwischen den Frommen und dem säkularen Teil der Bevölkerung ist tief. Die säkulare Türkei bestreitet deshalb, dass es legitim sei, wenn sich Erdogan jetzt von seinen Abgeordneten zum Präsidenten für die nächsten sieben Jahre wählen lässt, wo doch im November Parlamentswahlen stattfinden. Bisher sorgt der amtierende, streng laizistische Präsident Ahmet Necdet Sezer für eine Machtbalance zwischen dem islamischen und dem säkularen Lager. Eine Wahl Erdogans zum Präsidenten würde diese Balance zerstören – in den Augen vieler Türken wäre das der Anfang vom Ende der säkularen Republik.

Zwar hat die AKP in den letzten fünf Jahren die Türkei nicht in einen Gottesstaat verwandelt, aber ihr Einfluss ist unübersehbar. Nicht nur das Kopftuch breitet sich aus, sondern vor allem die unter dem Kopftuch verborgene streng konservative Gesinnung. Die modernen, emanzipierten Frauen in den westlichen Zentren der Türkei fühlen sich von der AKP-Gesinnung bedroht. Äußerst rigide Sexualvorstellungen, die damit einhergehende Zunahme sogenannter Ehrenmorde, die stillschweigende Duldung von Zweit- oder gar Drittfrauen, die auf sogenannten Imam-Ehen, also nur religiös vollzogenen Trauungen, beruhen, sind Indizien für diese Entwicklung. Sollte die AKP also tatsächlich bald auch das Amt des Staatspräsidenten besetzten, wäre das Militär in den Augen vieler das letzte Bollwerk gegen eine islamische Restauration.

Die AKP und vor allem ihr unumstrittener Chef Tayyip Erdogan müssen sich deshalb entscheiden, ob sie einen Konfrontationskurs wählen oder einen Kompromiss anstreben. Obwohl die Opposition um den Chef der Republikanischen Volkspartei, Deniz Baykal, im Moment alle Möglichkeiten durchspielt, wie sie Erdogan stoppen könnte, gibt es parlamentarisch oder verfassungsrechtlich wenig Spielraum. Daher fordert Baykal nun einen Einmarsch türkischer Truppen in den Nordirak, in der Hoffnung, so den ganzen Wahlprozess zu verzögern.

Erdogan hat sich bislang öffentlich nicht festgelegt. Innerhalb der AKP wird heftig darüber diskutiert, ob man nicht lieber einen neutralen Kandidaten ins Rennen schicken soll. Von der Entscheidung hängt viel ab. Selbst wenn ein direkter Eingriff des Militärs unwahrscheinlich ist, könnte die AKP zwar ihren Präsidenten durchsetzen, aber trotzdem alles verlieren. Sie müsste einen Ersatzmann für den Kampf um das Ministerpräsidentenamt nominieren. Außerdem hat sich gezeigt, dass starke Parteiführer, die sich zum Präsidenten wählen ließen, anschließend die Kontrolle über ihre Partei verloren. Die Gefahr, dass die AKP ohne Erdogan als Vorsitzenden auseinander brechen würde, ist groß.

Sicher ist, dass die AKP sich für die Novemberwahlen einer geschlossenen, hoch motivierten säkularen Front gegenüber sehen würde. Die Chance, wiederum die absolute Mehrheit zu gewinnen, wäre sehr viel geringer und Erdogan könnte als Präsident eine unerfreuliche Kohabitation bevorstehen.

Für die Türkei stünde damit die wirtschaftliche Entwicklung und die Politik einer Annäherung an die EU auf dem Spiel. Wenn Erdogan aus narzisstischen Gründen die Balance zwischen religiösem und säkularem Teil der Gesellschaft zerstört, droht der Türkei eine neue Phase des Chaos. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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