: Fenster zu, es zieht
Nach intensiven Warnungen von Meteorologen zog gestern der Orkan „Kyrill“ über Deutschland. Das Frühwarnsystem funktioniert. Einige wussten den Ausnahmezustand sogar für sich zu nutzen
VON MARTIN REICHERT
Welcher verdammte Schmetterling hat da in Indonesien mit seinen Flügelchen geschlagen? Nun haben wir den Salat: „Kyrill“ tobt durch Deutschland – der schlimmste Orkan seit „Lothar“ (1999), der vom Deutschen Wetterdienst damals einfach übersehen worden war. „Kyrill“ – ein Name übrigens, der gleich von mehreren Heiligen in Anspruch genommen wird – tobt nicht nur in den Höhen- und Küstenregionen, sondern überall. Menetekel an der Wand, ein weiteres „Vorzeichen“ für den Klimawandel? Offensichtlich hat er längst eingesetzt. Der WWF schickte sogleich eine Pressemitteilung los, die auf die Erkenntnisse seiner vergessenen Studie „Stormy Europe“ aus dem letzten Jahr hinwies. Die aktuellen Winterstürme lieferten demnach nur einen Vorgeschmack auf das Klima der Zukunft: „Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, werden die Winter noch ungemütlicher.“ Sogar der Thüringer Landesbischof Christoph Kähler nutzte die Gunst des Augenblicks – also des Ausnahmezustandes –, um in Anbetracht des Klimawandels zu einem bewussteren Umgang mit Energie aufzurufen. Energiesparen solle „zur Kultur“ werden.
Der Mensch handelt eben erst, wenn er muss – und gestern wurde bereits exzessiv gehandelt, bevor auch nur ein Lüftchen wehte. Die BürgerInnen wurden dazu angehalten, ihre Balkone abzuwettern: Volle Aschenbecher, Primelpötte und die leeren Sektflaschen einholen, weil diese sonst neben Dachpfannen und abgerissenen Ästen harmlosen Passanten auf den Kopf fallen könnten. Die aus ganz Deutschland eingehenden Meldungen störten die Ruhe vor dem Sturm: Bahn beschränkt Geschwindigkeit der ICEs auf 200 Stundenkilometer, Blumeninsel Mainau bleibt geschlosssen, Ostseefischer haben die Netze eingeholt, Mitglieder des THW „Gewehr bei Fuß“ – niemand möchte sich hinterher vorwerfen lassen, er habe nicht adäquat reagiert. Oberster Aktivist: der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen, der ein „Sylt-Sofortprogramm“ im Wert von rund 14 Millionen Euro verkündete, um das voranschreitende Verschwinden der Insel zu verhindern, angelegt auf drei Jahre. Angesichts der nahenden Fluten verlegte man sich vor Ort jedoch erst mal aufs Beten.
Den so umsorgten und beschützten BürgerInnn – schließen Sie Fenster und Türen – bleibt dann die Wahl: entweder auf dem schnellsten Wege nach Hause, unterwegs noch schnell ein paar Hamsterkäufe und ein Notstromaggregat bei Obi einladen. Oder erst recht ausgehen, feiern, mit Freunden zusammen sein: Davon geht die Welt nicht unter, sie wird ja noch gebraucht. Das Versprechen einer Katastrophe verheißt zugleich den emotionalen Ausnahmezustand: „Und, geht’s schon los?“ Silvester, nur dass niemand für das Feuerwerk bezahlen muss. Die Wasserschutzpolizei Schleswig-Holstein hat vorsorglich schon mal vor „Kyrill“-Tourismus gewarnt. Man fürchtet, dass Schaulustige in der Nacht Leib und Leben riskieren, weil sie sich das exorbitante Naturschauspiel auf Deichen und Sperrwerken anschauen wollen. In einem hochzivilisierten Land wie Deutschland wird Natur längst nicht mehr als existenzielle Bedrohung gedacht. Überlebenskampf im Thüringer Wald? Wenn schon, fährt man zum Survival.
Auch Meldungen über vereinzelte Tote ändern daran zunächst wenig. Erst wenn zum Beispiel der Strom ausfällt, wird die Attitüde der teilnahmslosen Beobachtung obsolet: Unplugged und im Kerzenschein wird man sich der eigenen Vulnerabilität schon eher bewusst – allein die Hamburger Sturmflut 1962 hatte über 300 Menschen ihr Leben gekostet.
Doch ein Trost bleibt, mag die Natur auch noch so toben: Die Versicherung zahlt ab Windstärke 8. Schäden am Haus, die durch umgestürzte Bäume Schornsteine oder Masten verursacht wurden, übernimmt die Wohngebäudeversicherung – Hochwasserschäden werden jedoch nur ersetzt, wenn eine Zusatzversicherung gegen „Elementarschäden“ abgeschlossen wurde. Auch zerbrochene Fensterscheiben sind nur durch eine zusätzliche Glasversicherung abgedeckt. Wird jedoch das Auto von einem Baum zermalmt, muss die Teil- oder Vollkaskoversicherung den Schaden meistens übernehmen (in Höhe des Zweitwertes). Und falls Ihnen ein Aschenbecher auf den Kopf gefallen ist: Die Krankenkasse zahlt. Es kann nichts passieren.
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